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биография |
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Lieber
Nachkomme, lieber Verwandter, lieber Freund und damit auch
geistig Verwandter! Ich wunsche dir viel Gesundheit und da.
der gute Geist dich niemals verla.t, da. du besonnen und
bedacht handelst und da. du an Freude, Faszination und
Eigenverantwortung immer teil hast. Und noch wunsche ich dir,
da. Gottes Segen dich auf allen Lebenswegen schutzt und dir
in allen Lebenslagen hilft. Dieser Segen ist dein
wichtigstes Erbteil an der langen und nicht leichten
Geschichte unserer Familie: |
Es segne
dich der Ewige und behute dich! |
Es lasse der
Ewige Sein Angesicht dir zuleuchten |
Es wende der
Ewige Sein Antlitz dir zu |
Nicht ich
oder sonst jemand ist die Quelle dieser Worte. Gott allein
ist Urquell des Segens, ich bin nur ein Uberbringer.
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Die
Geschichte, die ich erzahlen will, wenn auch noch so
verkurzt, ist lang und wurdevoll, tragisch und erhaben wie
ubrigens die Gesamtgeschichte der Menschen und insbesondere
der Juden. Ich glaube, es gibt heute kaum einen Adligen, der
sich nach der Lange seiner Sippengeschichte mit uns messen
konnte. Aber auch wir konnten der zerstorenden Kraft des
Zeitlaufs nicht standhalten. »Auch das vergeht« hat unser
Vorfahr, der Goldschmied Kalam, auf dem Ring des Konigs
Salomo auf dessen Gehei. eingraviert. |
Nazistische
Bomben auf Leningrad haben 1942 riesige Locher in unsere
Familiengeschichte geschlagen: In einem Bombenangriff wurde
das einmalige Familienarchiv unwiderruflich zerstort,
Hunderte von Dokumenten auf Pergament und Papier, Zeugnisse,
Notizen, Tagebucher, allerlei Urkunden, Urteile,
Gnadengesuche, Eigentumsbescheinigungen, Enteignungsbefehle,
Freibriefe, Geburts- und Einburgerungsurkunden, Schenkungs-
und Ehrenurkunden, Ehe- und Pachtvertrage, Sterbeurkunden,
Begrabnisbescheinigungen, kleine Gegenstande, Familienbilder,
Zeichnungen und Portrats aus vielen Landern und allen Zeiten.
Mein Gro.vater Schlomo-Chaim systematisierte und
katalogisierte diesen gesamten Schatz und verfa.te eine
Familienchronik in sieben dicken, gebundenen Heften, in
sieben sogenannten Wareneingangs- und -ausgangsbuchern, auf
russisch »ambarnaja kniga«. |
Das alles ist
zerstort. Mein Vater Israel hat das noch gesehen und darin
gelesen, insbesondere in den Chroniken. Das Wichtigste
erzahlte Schlomo-Chaim dem Israel, und Israel erzahlte mir
oft und viel. Er wollte auch verschriftlichen, was er noch
wu.te, hat es aber nicht geschafft: Das Unwichtige schien
oft dringender zu sein. Moglicherweise mache ich denselben
Fehler. Versuch du, mein Freund, das Wichtige mit dem
Dringenden nicht zu verwechseln, und erledige zuerst das
Wichtige, dann das Dringende, falls es sich bis dahin nicht
von alleine aufgelost hat. |
Leider konnte
ich nur einen Bruchteil dessen behalten, was mein Vater
erzahlte. Aber auch das ware schon zuviel, um es in dieser
Erzahlung bewaltigen zu konnen. So versuche ich hier nur
einige Personen aufzuzahlen, die in der Reihe unserer
Vorfahren stehen. Genaue Geburtsorte und -daten kenne ich
nur ab der Generation meiner Eltern. |
Au.erdem bin
ich mir dessen bewu.t, da. mein Wissen nicht nur
unvollstandig, sondern auch verwirrt und in manchem
unzuverlassig ist. Als ich zum Beispiel einem Historiker,
einem Fachmann fur die Geschichte des Buchdrucks in Ru.land
erzahlte, da. meine Vorfahren an der Modernisierung des
Druckhofs in St. Petersburg beteiligt waren, sagte er gleich,
da. es den Druckhof nur in Moskau gegeben habe, in St.
Petersburg dagegen die Erste Druckerei der Akademie der
Wissenschaften – wo also waren sie tatig gewesen? Ich hatte
bis jetzt bedauerlicherweise keine Moglichkeit,
Quellenstudien zu betreiben und die Fakten zu prufen. Aus
Angst, da. ich es wie mein Vater nicht schaffe, die
Geschichte ordentlich darzustellen, erzahle ich, was ich
noch wei., als eine Familienuberlieferung, als Sage. Ich bin
sicher, da. die Lebensintentionen der Menschen in dieser
Geschichte und ihre Schicksale dabei unverfalscht bleiben.
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Und noch etwas.
Ich wei., da. in jeder Geschichte vieles unwahr ist, weil
sie eben von Menschen erzahlt wird, und Menschen lugen,
manchmal unbewu.t, meistens aber vorsatzlich. Es gibt
ubrigens kein Gebot »Du sollst nicht lugen!«. Es gibt ein
Gebot: »Du sollst im Gericht nicht falsch aussagen und kein
Falschzeugnis ablegen und uber die Unwahrheit nicht schworen!«
Eine Geschichte ist aber kein Zeugnis und schon gar nicht
vor Gericht. Oder doch? |
Ich schwore
nicht. Aber mein Vater hat mich einmal bezuglich einer
wichtigen Sache angelogen. Als Kind habe ich ihn einst
gefragt: »Vater, wer sind wir und von wem stammen wir ab?«
Plotzlich wurde er ziemlich verlegen und fragte zuruck: »Was
willst du eigentlich wissen?« Mir ging es darum, von welchem
der zwolf Stamme Israels wir abstammen. |
Vater sagte,
da. das niemand mehr wisse. Die Stamme Israels hatten sich
vollig vermischt, und keiner wisse heute, wer von wem
abstamme. Deswegen unterscheide man nur Kohanim, die
Nachkommen Aarons, des Hohenpriesters, Leviten, die
Nachkommen Levis, und Israel, die Mischung aus allen anderen
Stammen. So sei die Abstammung der meisten Juden
verlorengegangen. Das ist zwar wahr, aber ich spurte in
meinem Innern, da. Vater lugt. |
Dann bohrte
ich naturlich weiter und sagte, da. ich sicher wisse, da.
unsere Abstammung nicht verloren gegangen sei. Vater wurde
noch verlegener und gab zu, da. wir aus dem Stamm Issachar
seien. Ich gab mich zufrieden, und Vater erzahlte
erleichtert: »Der erste in unserer Ahnenreihe ist der
Goldschmied und Edelsteinschleifer Kalam. Er war ein
Lehrling des Meisters Hieram und diente dem Konig Salomo. Er
stammte von Issachar ab...« |
Diese
Erzahlung wurmte mich zwei Jahrzehnte lang. Ich wu.te, da.
da etwas Wichtiges nicht stimmte. An meinem
funfundzwanzigsten Geburtstag stellte ich meinen Vater zur
Rede. »Issachar, das war ein Stamm der Krieger«, sagte ich,
»Kalam war aber ein Kunsthandwerker, der im Kontext seiner
Zeit hochst qualifiziert war. Das konnte damals nicht von
ungefahr kommen, sondern nur in der Familie gelernt werden,
aber nicht bei Issachar.« »Erstens«, sagte Vater lachelnd
und offensichtlich stolz auf mich, »genau deswegen stammt
Kalam vom Issachar, weil es ein Stamm der Krieger war. Und
zweitens, du hast Recht. Als du noch ein Kind warst, konnte
ich es dir nicht erklaren und sagte einfach irgend etwas, um
deine Warum-Wurmer zu sattigen.« |
»Also, wer
sind wir, Papa?« »Ich bin der Sohn eines Kohens.«
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»Dann bist du
auch ein Kohen und ich auch.« »Jain. So einfach ist es nicht.
Ich habe vieles in meinem Leben getan, was der Kohen nicht
tun darf.« |
»Was denn?
Hast du gemordet oder den Gotzen gedient?« »Nein, ich habe
nicht gemordet. Aber ich war im Krieg. Ich habe Leichen
beruhrt und mich danach nicht rituell gereinigt. Und sowieso
fuhre ich seit funfundfunfzig Jahren kein richtig judisches
Leben mehr und habe keine Jungfrau geheiratet. Ich a.
Schweinefleisch, ich verga. die Brachot und habe sicher das
Recht, das Volk zu segnen, verloren. Nein, wenn ich ehrlich
bin, kann ich mich nicht mehr Kohen nennen.« |
Der Vater
wirkte traurig und erleichtert zugleich. »Was hat das mit
mir zu tun?« fragte ich, »ich habe noch keine Leichen
beruhrt und eine Jungfrau geheiratet.« »Du? Du bist ein
Unwissender. Am schwersten habe ich mich bei Gott damit
verschuldet, da. ich dir keine judische Erziehung und
Bildung geben konnte. Ich war zu schwach dafur und auch zu
unglaubig. Und dem Gotzen habe ich auch gedient, dem
sowjetischen. Das verstehe ich jetzt.« |
»Aber du«,
fuhr der Vater fort, »du wei.t so gut wie nichts uber
Kohanim und uber das Judentum auch. Wie willst du ein Kohen
sein, wenn du mit einer Nichtjudin
1
verheiratet bist, keine Tefillin legst, kein Wort Hebraisch
lesen kannst und au.er Schma kein Gebet kennst? Was fur ein
Kohen bist du, wenn du nicht betest? Wer fur sich nicht
betet, betet nicht fur das Volk. Was verstehst du von der
Verantwortung eines Juden und insbesondere eines Kohens? Was
verstehst du denn von der Verantwortung?« |
Das Gesprach
mit Vater endete damals nicht, nicht an diesem Tag und nicht
am nachsten. Baruch Ha-Schem, das Gesprach mit Vater endete
uberhaupt nicht. Es anderte sich die Zeit, und seine Tage
endeten. Es ist mein Leben, das sich anderte. Mein seliger
Vater, der mir ein Leben lang Freund war, ist mein Lehrer
geworden. |
So glaube,
lieber Leser, nicht dem, was ich schreibe, glaube dem, was
du liest. Nimm dich bitte dieser Geschichte an. Nicht
belehren soll sie dich, sondern dir den geistigen Stoff zum
Nachdenken und Nachfuhlen geben. Verdauen sollst du sie und
Krafte bekommen, deine eigene Geschichte daraus zu machen
und sie fortzusetzen. Es wird aber keine leichte Kost sein.
Das Leben ist uberhaupt keine leichte Kost.
1 In
meiner ersten Ehe war ich mit einer Nichtjudin verheiratet.
Wir haben uns aber nicht deswegen getrennt, und ich bin
meiner ersten Ehefrau zutiefst dankbar fur die gemeinsamen
Jahre. |
Der erste in
unserer Ahnenliste ist der Goldschmied und
Edelsteinschleifer Kalam. Er war ein Lehrling des Meisters
Hieram und diente dem Konig Salomo. Kalam fertigte viele
Gegenstande fur den rituellen und personlichen Gebrauch des
Konigs, unter anderem den Ring mit der beruhmten Inschrift.
Spater wurde Kalam mit der Leitung des Brautzugs beauftragt,
der Prinzessin Nag-Saraj Taj-Jah aus Tanesch in Agypten als
Frau des Konigs abgeholt hat. Fur seine treuen Dienste
durfte Kalam Schema-Elah, eine Tochter des Konigs, heiraten.
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Eine der fur
meinen Vater wichtigsten Personlichkeiten in der fruhen
Periode unserer Familiengeschichte war Nehamiah, der
Goldschmied und Edelsteinschleifer am Hofe des gro.en Kyros.
Verwechsele unseren Vorfahren Nehamiah nicht mit dem in etwa
gleicher Zeit wirkenden Statthalter Nehemiah, mit dem wir in
keiner direkten Verwandtschaft stehen. Nachdem der gro.e
Konig die Juden aus der Gefangenschaft nach Palastina
zuruckschickte, um den Tempel wiederaufzubauen, meldete
unser Vorfahr Nehamiah aus religiosen Grunden Zweifel an der
Richtigkeit des Wiederaufbaus an. |
Seine
Argumente waren gnostisch-heuristisch: Erstens, kein Feind
hatte den ersten Tempel zerstoren konnen, wenn der
Allmachtige es nicht gewollt hatte. Hatte Er es aber gewollt
und die Feinde nur als Mittel zur Ausubung Seines Willens
benutzt, dann gilt es, zuerst zu verstehen, was der
Allmachtige uns, seinen Bundespartnern, damit sagen wollte.
Wohl kaum, da. wir das gerade Zerstorte stur wiederaufbauen
sollten. Nehamiah meinte, da. wir, wenn wir die Botschaft
nicht verstanden hatten, bewu.t an diesem Verstandnis
arbeiten mussen und mit dem Wiederaufbau abwarten. Weiterhin
mutma.te Nehamiah, da. die Zerstorung des Tempels ein
Zeichen, ein Ansto. zur Weiterentwicklung des Bundes, also
zur Religionsreform gewesen sei. Andernfalls sah er gro.e
unabwendbare Gefahren fur das judische Volk wegen der
unterlassenen Kommunikations- und Verstandigungspflege
zwischen den Bundespartnern, was den Bund belaste.
|
Das zweite
Argument fur den Zweifel sah Nehamiah darin, da. der Befehl,
den Tempel wiederaufzubauen, als Offenbarung des
Allmachtigen durch den Mund eines Nichtjuden, sei er auch
ein gro.er Konig, gegeben worden sei. Das eigentliche
Problem bestand fur Nehamiah darin, da. der gro.e Konig auf
diese Weise ein judischer Prophet geworden sei, ohne ein
Jude zu werden. Ein blindes Vertrauen auf eine solche
Ungereimtheit schien ihm viel zu gefahrlich und suspekt.
Sollte der Wiederaufbau des Tempels der im Zerstorungsakt
verborgenen wahren Botschaft des Allmachtigen nicht
entsprechen, so konnte der letztlich doch feindliche Konig
dem judischen Volk mit seinem Befehl einen weiteren, auf
Dauer viel gro.eren Schaden bescheren. Nehamiah schlo. nicht
aus, da. der gottliche Wille sich im Laufe der Zeit auch
andere. Um so mehr bemangelte er das Fehlen einer gepflegten
Verstehens- und Verifizierensweise im Dialog mit dem
Allmachtigen. Also mu.ten die Weisen der Juden sich
vordringlich um die gnostische Arbeit kummern. |
Mein
Urgro.vater Genrich und der Gro.vater Schlomo-Chaim
interpretierten den Denkansto. von Nehamiah als einen
unzeitgema.en Versuch, die heidnischen Elemente im Judentum
in Frage zu stellen. Mein Vater Israel ging weiter und
wollte in den Argumenten von Nehamiah die Aufforderung sehen,
alles, was Begriffe und Kultus betreffe, durfe
ausschlie.lich ideelle und nicht materielle Formen wie zum
Beispiel Tempelbau aus Holz oder Stein haben. Nehamiah hatte
allerdings keinen Erfolg mit seinen damaligen Ansichten, die
fur ihn gewi. auch lebensgefahrlich waren. Nichtsdestotrotz
hat er es geschafft, einen gro.en Konflikt zu vermeiden,
vielleicht infolge seines gesellschaftlichen Renommees und
seines Geldes: |
Immerhin hat er den
Wiederaufbau einer ganzen Ecke des Jerusalemer Mauerwerks,
den Turm und je funfzig Ellen in beiden Richtungen,
finanziert. |
Bemerkenswert
ist aber, da. Juden seit dieser Zeit sehr viel leiden mu.ten
und da. das Judentum sich nach der Zerstorung des
Herodianischen Tempels eben in die Richtung entwickelte, die
Nehamiah gerade meinte. |
VOM
MITTELALTER
BIS INS
20.JAHRHUNDERT
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Mein Gro.vater
Schlomo-Chaim vermerkte, da. es seit dem spaten Mittelalter
Meinungsverschiedenheiten uber die Herkunft unseres Namens
gab: Die einen Kommentatoren der Familiengeschichte meinen,
da. es eine Art Beiname geworden sei, denn Kalam, wie sie
sagten, sei ein hebraischer Schuler des aus dem Libanon
kommenden Hieram gewesen und hatte als Auftragnehmer am
Konigshof gelebt. Sie leiten »Sapira« von Sabra, Sabir,
Habir, Hebraer ab. Auch ist Chabirru ein agyptisches Wort
fur Viehnomaden. |
Die anderen
leiten »Sapira« von »gut, schon, erhaben, edel« ab, wie es
der Name des Edelsteins Saphir besagt, und meinen, da. Kalam
mit dem Beinamen eine Art Adelsrecht bekommen habe, was auch
damit gut vertraglich sei, da. er danach die Konigstochter
heiraten durfte. Dann ware das Wort »Sapira« dem deutschen »Gutmann«,
»Edelmann« oder »Hubschmann« ahnlich. |
Auch heute
bedeutet »Sabir« auf arabisch einen hohen Amtstitel an den
orientalischen Konigshofen, in turkischen Sprachen hei.t es
»Sabur«. Diese Version widerspricht dem Namensbezug von
Sabra gar nicht. Es sind auch andere Falle bekannt, wo der
Volks- oder Sippenname zum Titel oder zur Funktion wurde.
Man denke zum Beispiel an »Schweizer«, auf russisch hei.t es
Pfortner, auf italienisch Wachsoldat, Wachtposten. Auf jeden
Fall bin ich davon uberzeugt, da. der Beiname von Kalam als
Wort schon vorher in Gebrauch war, also seit mindestens 950
Jahren vor der christlichen Zeitrechnung. |
Die dritten
versuchen in Kalams Beinamen eine Wurdigung des Handwerks
und die Familiennamensbildung nach dem Namen des Edelsteins
beziehungsweise des Edelsteinschleifers als Berufsstand zu
sehen. |
Dieser Gedanke
schien Schlomo-Chaim vollig anachronistisch zu sein. Die
Namensbildung mit beruflichem Bezug ware nach Schlomo-Chaim
nur mit Herausbildung des Burgerbewu.tseins und der Stande
moglich, also nicht vor dem Mittelalter. Au.erdem schreibt
man den Namen Schapira am Anfang mit dem Buchstaben Schin
und das Wort fur den Edelstein mit dem Buchstaben Samech.
Zur Zeit der Standebildung war die Schreibweise fur beide
Worter langst unveranderlich geworden. |
Ubrigens
erzahlt die Familienlegende, da. Konig Salomo die
Schreibweise des Wortes Saphir mit dem Buchstaben Samech
eingefuhrt habe, um das edlere Wesen des Steins im
Zusammenhang mit Salomos mystischen Erkenntnissen uber die
Natur der Zeit und uber die Urschopfung wegen der
Schlangensymbolik des Samech gebuhrend auszuzeichnen. Vorher
schrieb man Saphir wie unseren Namen mit dem Buchstaben
Schin. Davon will ich ein anderes Mal erzahlen, wenn ich die
Geschichte des Salomonischen Ringes niederschreiben werde.
Und wenn ich es nicht schaffe, sollen meine Kinder Ussiah
und Genrich diese Geschichte erzahlen. |
Zum
vierten mochte ich vollstandigkeitshalber noch eine
offensichtlich neuzeitliche Version der Namensdeutung »Schapiro«
erwahnen, die gar nicht aus unserem Familienkreis stammt und
die ich fur ebenso unwahrscheinlich halte, wenn darin die
einzige Quelle unseres Namens gesehen wird. Manche
Philologen meinen, da. der Name »Schapiro« ausschlie.lich
von der Stadt Speyer abstamme, wo eine gro.e judische
Gemeinde war. Als dort fast alle erwachsenen Juden wahrend
eines Pogroms in der Synagoge lebendig verbrannt wurden,
erhielten spater ihre am Leben gebliebenen Kinder den Namen
»Schapira« nach der Stadt des |
Martyriums ihrer Eltern und
weil man angeblich nicht mehr wu.te, welches Kind von
welchen Eltern abstammte. |
Ich meine, da.
die Namensbildung »Schapiro« nach der Stadt Speyer nicht
unbedingt fur alle Schapiros zutreffen mu.. Laut
Uberlieferung waren unsere Vorfahren gar nicht in Speyer,
sondern kamen aus Portugal nach Amsterdam und von dort uber
Osterreich nach Ru.land, also nicht uber Polen, wie die
meisten russischen Juden. In Deutschland bekamen die Juden
ihre Nachnamen von den deutschen Behorden, die sich bei
weitem nicht immer an judischen Sprachgegebenheiten
orientierten. Jedoch kommen nicht unbedingt alle, die den
Namen Schapira tragen, aus Deutschland. Den etymologischen
Zusammenhang zwischen den Namen Speyer und Schapira in der
tiefen Vorgeschichte der Sprachen mochte ich naturlich nicht
bestreiten. |
Selber will
ich funftens doch nicht ausschlie.en, da. unsere Familie den
heutigen Namen Schapira in Anlehnung an die dritte Variante
bekommen haben konnte. Gerade im spaten Mittelalter waren
Juden in Portugal aufgefordert, Nachnamen anzunehmen. Als
Juweliere und Edelsteinschleifer hatten sie den Namen
Schapira im Andenken an Kalam und mit Bezug auf den Begriff
des Schonen leicht annehmen konnen. |
Wie du siehst,
mein Lieber, hat Schlomo-Chaim auch die Meinungen in seinem
Kommentar festgehalten, die er fur unzulanglich hielt. Das
macht seine Arbeit in meinen Augen sehr vertrauenswurdig.
Auf jeden Fall ist unsere Geschichte nicht nur eine
Aufzahlung von Heldentaten und ruhmvollen Denkwurdigkeiten,
sondern auch eine gro.e Ansammlung von Irrtumern.
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Jetzt,
lieber Leser, mu. ich vieles, was ich noch wei.,
uberspringen und mich sehr kurz fassen, sonst werde ich mit
dieser Erzahlung gar nicht fertig. |
Bis ins
17.Jahrhundert hinein waren unsere Vorfahren Goldschmiede
und Edelsteinschleifer. Egal, ob sie namhaft wie Kalam im
10.Jahrhundert vor Christus, Nehamiah im 6.Jahrhundert vor
Christus, unser getaufter Verwandter Goldschmied Jose
Coloumb in Madrid im 16.Jahrhundert, der Verleger und
Typograph Mendel-Hendrik in Amsterdam im 17.Jahrhundert, der
im 18.Jahrhundert in St.Petersburg verleumdete und
verurteilte Jakob oder die armen Bauern und Zimmerleute im
Wei.ru.land des 19.Jahrhunderts waren, sie waren immer
religios, sehr flei.ig und pflegten eifrig die
Familiengeschichte. Bitte nimm dich dieser Geschichte an,
pflege sie und fuhre sie weiter fort. |
Alle diese
Leute, deren Namen wir noch wissen, und die, deren Namen uns
geraubt worden sind, leben in dir, in deinem Inneren,
zusammen mit ihrer Erfahrung, ihrer Liebe und Gute. Wenn du
es wei.t, dann kommen sie zu dir in deiner schweren Stunde
zum Helfen und in deiner Freudenstunde, um sich zu freuen
und mit dir zusammen zu feiern. Aber du sollst es lernen,
mit ihnen und damit auch mit mir im Gesprach zu bleiben und
dieses Gesprach nicht zu scheuen. Keiner wunscht dir so viel
Gutes und keiner ist so hilfsbereit, wie dieses Volk, das in
dir und durch dich weiterlebt. Auch ist keiner so wie sie in
der Lage, dich im Verborgenen – egal, ob im Guten oder im
Schlechten – zu verstehen, denn alle deine Probleme haben
sie schon in der einen oder anderen Form gehabt und immer
eine wurdige Losung gefunden, eben auch mit Hilfe ihrer
Vorfahren. |
Mendel-Hendrik Schapira in Amsterdam war der erste in der
Familie, der das Juwelenhandwerk aufgab. Er grundete eine
Druckerei und verlegte unter anderem zwei Traktate von
Baruch Spinoza. Das brachte ihm solche Schwierigkeiten mit
der judischen |
Gemeinde in Amsterdam ein,
da. er mit seiner Familie die Stadt verlassen mu.te. Wir
sind im Besitz des Portrats von Mendel-Hendrik Schapira, das
gewi. nur mit sehr gro.en Schwierigkeiten uber all die
Zeiten und Grenzen gerettet werden konnte. Ich kann mir gut
vorstellen, wie gro. die Freude in der Familie war, als sie
noch im rechten Augenblick eine Einladung nach Salzburg
bekam, um dort die erzbischofliche Druckerei zu
modernisieren. Nach einigen Jahren reichlich belohnt fur
ihre gute Arbeit, bekamen die Schapiras den Auftrag, den
Druckhof der Zarin Katharina der Gro.en in St.Petersburg zu
reorganisieren und zu modernisieren. |
Als der
Auftrag in St.Petersburg erfullt worden war, wurden die
Familienoberhaupter Jakob, unser direkter Vorfahr, und sein
Bruder – auf die Schnelle zweifle ich plotzlich, ob er Josef
oder Benjamin hie. –, statt ihren Lohn zu bekommen,
verleumderisch eines Mordes und der Spionage fur Preu.en
beschuldigt. Der ganzen Offentlichkeit in Ru.land war damals
klar, da. der Proze. verleumderisch-antisemitisch und da.
die Schuld unserer Vorfahren weder an diesem Mord noch an
der Spionage jemals nachgewiesen worden war. Trotzdem wurden
die Bruder Schapira verurteilt, offentlich ausgepeitscht,
entehrt und enteignet und zusammen mit ihren Familien nach
Sibirien verbannt. |
Der in
Sibirien geborene Genrich (1783–1896) mit dem Beinamen Dobry
(auf russisch: der Gutige) bekam vom Zaren Paul I., dem Sohn
Katharinas der Gro.en, die Erlaubnis, in ein Siedlungsgebiet
nach Wei.ru.land zu ziehen. Bei der Ausstellung der
Ruckkehrerlaubnis hat ein Schreiber der Zarenkanzlei unseren
Familiennamen Schapiro anstelle von Schapira geschrieben.
Das zu andern war fur die damals mittellose Familie nicht
moglich. |
In Wei.ru.land
pachtete die Familie den Boden beim Gutsbesitzer Korsakow
und verdiente ihr Brot als Bauern und Zimmerleute. Dort
wurde im Dorf Korsakowitschi unweit von Sembin bei der Stadt
Borissow im Minsker Gouvernement Schlomo-Chaim (1850–1938)
als jungster Sohn des Genrich geboren. Ebenda wurde sein
Sohn, mein Vater Israel am 1.Mai 1901 geboren. Er starb in
Moskau am 6. Marz 1976 und wurde von mir zusammen mit Lew
Bimman in Jerusalem auf dem Friedhof »Givat Shaul« begraben.
Das Grab von Schlomo-Chaim befindet sich auf dem alten
judischen Friedhof in St.Petersburg. Ich wurde am 21.April
1944 in Moskau geboren. |
Da. der
Beiname Dobry den Urgro.vater Genrich schmuckte, hatte
Grunde. Mein Vater Israel erzahlte mir unter anderem viele
kleine Geschichten und Anekdoten aus dem bauerlichen Leben
der Schapiros in Korsakowitschi. In einer davon wird
berichtet, da. eines Tages ein aus dem Stall ausgerissener
Bulle auf der Dorfstra.e wutete; er zerstorte Zaune, stie.
Mensch und Vieh. Genrich, der zur Stunde gerade betete, kam
aus seinem Blockhaus heraus und redete dem Bullen ruhig zu.
Und dann bedeckte er ihm den Kopf samt Hornern mit seinem
Talles. Der Bulle beruhigte sich und lie. sich wieder
anbinden. |
Genrich war
ein sehr flei.iger und dadurch erfolgreicher Bauer und
Zimmerer. Er hatte viele Kinder, von welchen achtzehn am
Leben blieben und erwachsen wurden. Da mu. ich mit Staunen
und Bewunderung an seine kleinwuchsige Frau Rachel und ihr
Lebenswerk denken. |
Als Genrich
funfzig Jahre alt wurde, brauchte er nicht mehr auf dem
Felde oder beim Hauserbau zu arbeiten, weil seine
erwachsenen Kinder auch ohne ihn die ganze gro.e Familie
versorgen konnten. Genrich, der vorher nur den Cheder
besucht hatte, fing an, sich intensiv weiterzubilden. So
wurde er mit sechzig Absolvent der Talmud-Thora-Schule in
Borissow und beschaftigte sich weiter mit dem Thoraschreiben
und eben mit dem Studium der Thora und des Talmuds. Er hatte
schon einige Thora-Rollen geschrieben, als er mit siebzig
zur Auffassung kam, da. man, um Gottes Werk zu erlernen,
sich nicht nur mit den religiosen und historischen Texten,
sondern unbedingt auch mit den Naturwissenschaften
beschaftigen mu.. So lernte er intensiv und beharrlich als
Autodidakt und nahm Nachhilfestunden. |
Mit
siebenundsiebzig Jahren bestand Genrich im externen
Verfahren die Abiturprufung am Gymnasium in Minsk und wollte
an Seiner Kaiserlichen Majestat St.Petersburger Universitat
studieren. Er dachte, sein Alter wurde ihm Probleme bei der
Immatrikulation machen, aber er irrte sich. Er durfte nicht
studieren, weil er Jude war. Juden durften in Ru.land vor
1863 grundsatzlich nicht an den Hochschulen studieren und
danach nur als Ausnahme und bei weitem nicht an allen
Hochschulen. |
Nach
dreijahrigem Bemuhen bekam der inzwischen achtzigjahrige
Genrich die Erlaubnis, die gerade frisch gegrundete
Hochschule fur Bergwesen zu St.Petersburg zwar nicht als
Student, jedoch als freier Zuhorer zu besuchen. 1870 bekam
Genrich wieder im externen Verfahren seinen Magistertitel
als Mineraloge. Drei Jahre spater fuhrte er die erste
Akademische Mineralogische Expedition Ru.lands in den Ural
mit der Aufgabe, einen vollstandigen mineralogischen Atlas
des Urals zu erstellen. Diese Aufgabe wurde 1883 zum
hundertjahrigen Geburtstag von Genrich Schapiro mit Erfolg
beendet. Bis zu meiner Ausreise nach Deutschland hatten wir
noch als Erinnerungsstuck von Genrich die kleine
Demonstrationsvariante des Mineralogischen Atlasses des
Urals zusammen mit Genrichs eigenhandiger Beschreibung der
Mineralien aus dem Jahr 1883. Da ich keine Ausfuhrerlaubnis
fur diese alte Mineraliensammlung von den Sowjetbehorden
bekam, uberlie. ich die Sammlung meinem Freund Dr. Juri
Frejdin zur freien Verwendung nach seinem Verstandnis.
|
Genrich
war von bewundernswerter Gesundheit. Er fuhrte ein sehr
bewegtes Leben, badete im Winter wie im Sommer in freien
Gewassern und bis zu seinem letzten Tag unterlie. er seine
Thorastudien nicht. Als er hundert Jahre alt wurde und seine
Manneskraft noch nicht verloren und die eigenen Zahne im
Munde hatte, war er zu dem Schlu. gekommen, da. Gott ihn fur
sein frommes Leben mit der Unsterblichkeit beschenkte. So
wollte er dann eine neue mineralogische Expedition zum
Baikalsee fuhren. Dies war aber nicht mehr moglich, jedoch
|
fuhr Genrich als Konsultant
dorthin mit. Expeditionsleiter wurde der spater beruhmte
Obrutschew, mit dem Genrich kollegial befreundet war. Der
sehr personliche Brief von Obrutschew, in dem er die Familie
uber den Tod von Genrich unterrichtete, ist wie vieles
andere aus dem Familienarchiv im Zweiten Weltkrieg von den
deutschen Bomben zerstort worden. Genrich ertrank, als er im
Baikalsee badete. Man konnte seinen Korper im kristallklaren
Wasser noch sehen, aber wegen der zu gro.en Tiefe nicht
bergen. Genrich Schapiro starb 1896 im Alter von
einhundertdreizehn Jahren. Das liebevolle Portrat von
Genrich, das du kennst, hat der Maler Galkin gemalt.
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Einer der
Sohne Genrichs hie. Joine. Er ist kein Vorfahr, aber ein
Verwandter von uns, und ich fuhle mich verpflichtet, sein
Leben mit wenigen Worten zu wurdigen. Er verschwand spurlos
im Alter von acht Jahren, kam einfach von einem Spaziergang
nicht zuruck. Viel spater hat man etwas uber sein Schicksal
erfahren. |
In dieser Zeit
hatte Ru.land eine Berufsarmee. Der Militardienst fur
Soldaten dauerte funfundzwanzig Jahre, gezahlt wurde ab Ende
der Ausbildung. Wahrend der Ausbildung hie.en die
Einberufenen nicht Soldaten, sondern Rekruten. Einberufen
wurde im Alter von neunzehn Jahren unter den sogenannten
Vollburgern, zu welchen die nationalen und religiosen
Minderheiten nicht zahlten, nur russische Bauern und
Kleinburger christlichen Glaubens. Also wurden zum Beispiel
Zigeuner oder Juden grundsatzlich nicht einberufen.
|
Der russische
Soldat war damals das rechtloseste Wesen auf der Welt, und
das Soldatenleben war grausam nicht nur im Krieg, sondern
auch im friedlichen Alltag. Es galt die Ansicht, je
grundlicher Soldaten im Frieden gequalt wurden, desto
leichter wurden sie in der Schlacht fur den Zaren und furs
russisch-orthodoxe Vaterland sterben wollen. Um eine solche
Identitat dem jungen Rekruten anzuerziehen, wurde in den
Kasernen au.er ohnehin grausamen Erziehungsubungen eine
ganze Reihe verschiedener Unterwerfungs- und
Demutigungsriten und -kulte mit korperlichen und seelischen
Torturen unter den Soldaten selbst gepflegt und ausgeubt.
»Soldatenleben ist ein verlorenes Leben«, wurde
sprichwortlich gesagt. Militardienst in Ru.land war
gefurchtet. |
Da die
Einberufung nach Quoten und nicht nach personlicher Pflicht
durchgefuhrt wurde, war es bei den Reicheren ublich, an
Stelle eigener Sohne die gekauften Sohne armer Eltern zu
stellen. Es gab aber nicht genug Arme im armen Ru.land, um
den Bedarf an Ersatzrekruten zu stillen. So ergab sich eine
vom russischen Staat nicht nur geduldete, sondern geradezu
geforderte Praxis: Kantonisten-Schulen. |
Die
Institution der Kantonisten-Schulen funktionierte
folgenderma.en. Ein spezieller Fangtrupp, die Chapper,
veranstaltete eine regelrechte Jagd auf Kinder der
nationalen oder religiosen Minderheiten, meistens auf
judische Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren. Der
Fangtrupp bemuhte sich, die Kinder so zu fangen, da. es
dabei keine Zeugen gab, also beim Spaziergang au.erhalb der
Dorfer oder vereinzelt auf dem Schulweg. Nur in
Ausnahmefallen wurden die Kinder aus den Familien gewaltsam
geraubt, am haufigsten wahrend der Pogrome. Die Kinder in
judischen Siedlungen bekamen Ausgehverbot, wenn das Gerucht
kreiste, da. ein Fangtruppverdachtiger in der Nahe gesehen
wurde. Die gefangenen Kinder, die Kantonisten, wurden in
einem Internat meistens bei einem Kloster oder innerhalb
einer Kaserne versammelt, getauft und als zukunftige
Rekruten erzogen. Die Wehrpflichtigen konnten sich bei den
Kantonisten-Schulen freikaufen. Sie deckten dabei die Fang-,
Verpflegungs- und Erziehungskosten, und ein Kantonist ging
zum Militardienst an Stelle des Kaufers. |
Da. es dabei
keine Rechtsaufsicht und keine Berufungsmoglichkeit gab, ist
so gut wie selbstverstandlich. Bei geburtsarmeren Jahrgangen
kaufte selbst der Staat Rekruten aus den
Kantonisten-Schulen, ohne darauf zu achten, ob sie das
Einberufungsalter erreicht hatten oder nicht. Die
Sterblichkeit unter den Kantonisten war sehr hoch.
|
Die
Praxis der Kantonisten-Schulen wurde gerechtfertigt durch
das deklarierte Recht eines jeden Nichtchristen, seinen Weg
in den Scho. der russisch-orthodoxen Kirche und damit in
|
das Heil unter dem Schutz
des russischen Volks zu finden. Die Kantonisten wurden
gezwungen, eine entsprechende Erklarung zu unterschreiben.
Das reichte, um jeden Rechtsanspruch der nicht uber das
volle Burgerrecht verfugenden nationalen oder religiosen
Minderheiten abzuwehren. Also, es ist dir schon langst klar
geworden, da. Joine gefangen und zum Kantonisten gemacht
worden war. |
Ich vermag
nicht, die Qualen, insbesondere die seelischen, zu
beschreiben, denen Joine in diesen Jahren ausgesetzt wurde.
Daruber erzahlte er spater seinem Bruder Schlomo-Chaim. Und
doch fand sich ein Mensch in seiner Nahe, der in dem kleinen
Jungen eine gro.e Seele und eine angeborene Vernunft
entdeckte und ihn unbedingt vor dem Militardienst retten
wollte. Das war sein Religionslehrer Vater Arseni seligen
Angedenkens. Es gab nur eine Moglichkeit, dem Militardienst
als Kantonist zu entgehen. Das war – die Flucht nach vorne,
wurde meine Frau Hella sagen – die Karriere als Monch. Als
Monch erhielt Joine den Namen Makari. Vernunftig und flei.ig,
fand er sich bald gut zurecht in der kirchlichen Hierarchie
und machte eine bemerkenswerte Karriere. In den achtziger
Jahren wurde er Bischof des Nowgoroder Kirchenbezirks. Sein
Ruhm als milder, beratender und helfender Kirchenvater
fuhrte Pilger aus ganz Ru.land zu ihm. |
Eines Tages
blieb vor dem Tore des Schapiroschen Hauses in Borissow ein
solider Wagen mit Vierergespann stehen. Ein Monch stieg ab,
offnete die hintere Tur, klappte die Steigstufe aus und half
einem anderen aus dem Gefahrt. Dieser anderer, Seine
Eminenz, der Nowgoroder Bischof Makari, kniete vor dem Tore
und ku.te die Erde. Als er aufstand und eintreten wollte,
rugte ihn grobschlachtig ein Bauer mit einem ihm verbluffend
ahnlichem Gesicht: »Haut ab, ihr Schweinefresser, hier ist
ein judisches Haus!« »Bruder, ich bin Joine«, sagte Makari.
Aber sein Bruder, der dumme Jizchak, eines von den achtzehn
Kindern Genrichs, konnte sich in diesem Augenblick nach uber
drei.ig Jahren an keinen Joine erinnern. Der
judisch-orthodoxe Kleinmut versperrte sein Menschenherz beim
Anblick des russisch-orthodoxen Monchs. Jizchak rief einen
anderen Bruder und zwei Neffen zu Hilfe, und sie verjagten
den weinenden Makari, ohne ihn uberhaupt anhoren zu wollen.
|
Ich glaube,
dies war der schlimmste Tag im ganzen Leben Makaris, und ich
schame mich fur meine Gro.onkel jetzt wie beim ersten Mal,
als ich diese Geschichte von meinem Vater horte. Der
einhunderteinjahrige Genrich und seine Frau Rachel waren an
dem Tag in ihrem Haus in Korsakowitschi, sie begriffen
sofort, wer der Monch war, der ins Haus wollte. Fast vierzig
Jahre lang hatte Genrich fur die Errettung Joines gebetet,
und er war sicher, da. sein Gebet gehort wurde. Genrich
schrieb einen Brief an Joine, aber es verging noch ein Jahr,
bis es den Schapiros gelang herauszubekommen, wer der Monch
war und wo man ihn finden konnte. |
Makari verzieh
seinen Brudern. Er besuchte noch einmal sein Geburtshaus und
empfing vom Vater einen Segen. Als es der Familie bald nach
Genrichs Tod wegen der neuen Enteignungen und des Verlustes
der Pacht finanziell sehr schlecht ging, half Makari ihnen
aus seinen Privatmitteln zwei oder drei Mal. Bis zu seinem
Tod wechselte er Briefe mit seinem jungeren Bruder
Schlomo-Chaim, der in ihm vielleicht den einzigen Vertrauten
au.er seinem Vater Genrich fand. |
Schlomo-Chaim
war das jungste Kind von den am Leben gebliebenen und galt
als das begabteste. So wurde er fur ein hoheres Studium
bestimmt, um Rabbiner zu werden. Nach der Borissower
Talmud-Thora-Schule fuhr er nach Lemberg und studierte in
der dortigen Jeschiwa. Dabei lernte er einige Kabbalisten
kennen, durch welche er mit der scholastisch-theologischen
Problematik der Wahrheitsfindung vertraut wurde, und fing an,
sich besonders fur das Methodische zu interessieren. Die
Lehren von drei gro.en Denkern, deren Werke er in Lemberg
wahrnahm, gaben ihm den entscheidenden Impuls: die Lehre
uber die universelle Richtbarkeit des Londoner Rabbiners und
Mathematikprofessors Isaac Nikolai Barrow, uber die
Koordinatenmethode von Descartes und die Mathematischen
Grundlagen von Isaac Newton. Wegen dieser Werke erlernte
Schlomo-Chaim Latein und riskierte Spannungen im Verhaltnis
zu seinen Lehrern in der Jeschiwe. Nach Studienende bekam er
keine Zulassung zu den rabbinischen Prufungen. |
Mittellos und
verrufen ging Schlomo-Chaim nach Dorpat, wo er sich mit
Nachhilfestunden in Hebraisch, Gelegenheitsjobs und
mildtatiger Hilfe einiger besser situierter Freunde uber
Wasser hielt. Seine schlimmsten Probleme in dieser Zeit
waren Hunger, Kalte und da. er anstandige Kleider haben
mu.te, um in der Dorpater Offentlichkeit auftreten zu
konnen: Im Zentrum seines Lebens stand die Dorpater
Universitat. |
Als freier
Zuhorer besuchte Schlomo-Chaim Vorlesungen in
Naturphilosophie, alterer und neuerer Geschichte, Mechanik,
Logik und schwerpunktma.ig in Mathematik und
Mathematikgeschichte. Die Mathematik war es, die zunehmend
alles andere bis auf ekstatisch religiose Lyrik in
hebraischer Sprache aus seinem Leben verdrangte. In der
Mathematik sah der wortkarge, stark introvertierte Sohn
Genrichs den Schlussel zum Begreifen des Gotteswerks und
Gottes selbst. Er war uberzeugt, da. der Bund beide Seiten –
Gott und den Menschen – zum gegenseitigen Erforschen
verpflichte. Wohl dachte er, da. Gott fur den Menschen nicht
bis in alle Tiefen und Details begreiflich sein konnte.
Dennoch machte er sich die Erforschung der prinzipiellen
Grenzen der Begreifbarkeit Gottes zur Lebensaufgabe.
|
Disziplin,
Arbeitsbesessenheit und die Lebensfuhrung eines orthodoxen
Juden reichten nicht aus, um Schlomo-Chaim eine Existenz auf
der Basis seiner Lebensaufgabe in Dorpat zu ermoglichen. Um
nicht zu verhungern und seiner Arbeit die angemessene Zeit
widmen zu konnen, war er gezwungen, doch nach Borissow
zuruckzukehren. |
Unterwegs
besuchte Schlomo-Chaim seinen neu gefundenen Bruder Makari
in Nowgorod, von dem er aus einem Brief seines Vaters
erfahren hatte. Sie lernten sich kennen und wurden Freunde
und Diskussionspartner. Die Unterschiede ihrer religiosen
Auffassungen blieben Teil ihrer Privatsphare. Die gemeinsame
geistige Intention war offensichtlich der Motor in ihrer
Beziehung. Sie beide waren Gnostiker, jedoch verschiedener
Art. Makari meinte, da. die Erforschung der prinzipiellen
Grenzen der Begreifbarkeit Gottes nichts anderes als der
Lebensproze. an sich sei und damit eine rein
empirische Angelegenheit. Schlomo-Chaim baute auf die
formalisierte Ratio, die als eine Invariante des Seins in
sich die immanenten Grenzen des Erkenntnisprozesses
explizit per constructionem aufweisen mu.te. Eine solche
Ratio versuchte er in seinen mathematischen Ubungen als
formales Aussagesystem zu konstruieren. |
Makari
argumentierte, da. Schlomo-Chaim den konstruktiven Weg
gerade mit seinem Leben verwirklichen wolle, also empirisch.
Schlomo-Chaim berief sich darauf, da. das Argument von
Makari eben als eine Aussage in einem zwar
nichtformalisierten, aber formalisierbaren |
Aussagesystem erbracht
worden sei. Da. dieses Aussagesystem unbedingt
formalisierbar sei, sei notwendig, damit zwei so
verschiedene Betrachter wie Makari und er selbst beide
sicher sein konnten, da. sie einander tatsachlich verstehen,
auch wenn sie miteinander nicht einverstanden seien. Und so
weiter ... |
In Borissow
fand das Treiben von Schlomo-Chaim kein Verstandnis und auch
keine Zustimmung bei seiner Gro.familie. Der
chemisch-petrologisch gebildete Genrich verstand zwar die
Ausfuhrungen von Schlomo-Chaim nicht, aber er vertraute als
einziger in der Familie auf die Richtigkeit seines Tuns und
unterstutzte seinen Sohn auch finanziell. Zwar dachte
Genrich in dieser Zeit, da. er unsterblich geworden sei,
jedoch trug er seinen bodenstandigen Sohnen auf, im Falle
seines Todes Schlomo-Chaim und dessen zukunftige Familie in
Gottes Namen gut zu versorgen. Genrich bestand darauf, da.
Schlomo-Chaim heiraten und Kinder haben solle. Ich mu. ihm
dafur in besonderem Ma.e dankbar sein. |
Im selben Jahr
brannte die alte Borissower Synagoge. Wahrend die anderen
nach Wasser schrien und auf die Feuerwehr warteten, rannte
Schlomo-Chaim durch das Feuer in den Gebetssaal, ri. den
Schrein auf und brachte zwei Thora-Rollen heraus. Als er die
weiteren holen wollte, brach die Decke im Eingangsflur
zusammen. Eine dieser von Genrich geschriebenen Thora-Rollen
befindet sich restauriert in unserem Besitz. Dafur mochte
ich an dieser Stelle denjenigen Freunden danken, die spater
zum Uberleben dieser Rolle beigetragen haben, das sind Pawel
Kusnezow, Sergej Dunin und in besonderem Ma.e Wolfgang
Kasack. Im Jungsten Gericht gilt die Errettung einer
Thora-Rolle als Errettung eines Menschenlebens. |
Schlomo-Chaim
heiratete Hannah Bassein in Borissow. Unser Ljolja, Lew
Bimman, der mit der Dirigentin Kamilla Kolchinsky
verheiratet zur Zeit in Kalifornien lebt, ist Sohn von
Rachel Bimman, geborene Bassein, der Schwester meiner
Gro.mutter Hannah Schapiro. Schlomo-Chaim und Hannah lie.en
sich im alten Schapirohaus in Korsakowitschi nieder.
|
Hannah schmi.
den Haushalt, den Gemusegarten, versorgte die Tiere.
Schlomo-Chaim half ihr nur wenig. Seine ganze Zeit und alle
Krafte widmete er seinem »formalen, nicht trivialen
Aussagesystem», das die “immanenten Grenzen des
Erkenntnisprozesses in sich explizit aufweisen« sollte.
Hannah verstand nichts von seiner Arbeit, und trotzdem war
sie sicher, da. gerade ihr Mann das Allerwichtigste machte,
was mit dem Glauben generell und insbesondere mit der
Verantwortungsfahigkeit des Menschen fur sein Tun im
Zusammenhang stehe. Dieser Glaube Hannahs an ihn spornte
Schlomo-Chaim in seiner Arbeit zusatzlich so stark an, da.
er aus Angst, den Erwartungen seiner Frau nicht genug zu
entsprechen, sich manchmal bis zur Besinnungslosigkeit
ausbeutete. Jedoch verstand er die Erwartungen seiner Frau
vollkommen falsch: Hannah versuchte stets, seine Askese
einzugrenzen und in einen gesunderen Arbeitsrhythmus zu
verwandeln, aber Schlomo-Chaim war schwer zu beeinflussen.
|
Es fand sich
aber eine naturliche Weise, etwas Entspannung in die
schwierige Verstehensarbeit von Schlomo-Chaim und auch einen
neuen Fortschritt in sein Leben zu bringen: Am 1.Mai 1901
wurde sein altester Sohn Israel geboren. |
Schlomo-Chaim
entdeckte sich schnell als Vater und half Hannah mit Freude
und Geduld. Die »immanenten Grenzen des Erkenntnisprozesses«
waren immer noch undurchschaubar, schienen aber nicht mehr
so hart zu sein wie vorher. Es kam ihm vor, als ob der
kleine Israel sie mit seinen Handchen spielend knetete und
fetzte. |
Eins nach
dem anderen brachte Hannah weitere Kinder in die Welt: Ita
(Tussja), Eugenia (Genja), Rosa, Matwej (Motja), und Isaak;
mit Israel insgesamt sechs. Von Israel komme ich
|
(Baruch), Ita bekam Michael,
Eugenia hat zwei Kinder: Raphael und Anna, Rosa blieb
kinderlos, Matwej bekam Inna, Isaak bekam zwei Tochter: Vera
und Natalja. Alle Kinder dieser Generation sind noch am
Leben und viele haben auch Kinder und Enkelkinder.
|
Kurz nach
Israels Geburt ging es in Korsakowitschi nicht mehr weiter.
Der Gutsbesitzer Korsakow kam wegen Kartenspielschulden vor
Gericht und wurde teilenteignet. Folglich verloren Schapiros
ihr Pachtland und mu.ten nach Borissow umziehen.
|
Der Erste
Weltkrieg rollte an der Familie Schapiro so gut wie vorbei.
Das wichtigste mir bekannte Ereignis aus dieser Zeit:
Schlomo-Chaim fand den Beweis in dem von ihm
konstruierten Aussagesystem dafur, da. es in diesem System
unentscheidbare Aussagen gibt und da. es in jedem
Aussagesystem unentscheidbare (unbeweisbare) Aussagen geben
mu..
2
Das war eine mathematisch korrekt formulierte explizite
Erkenntnis der prinzipiellen Grenzen des Erkenntnisprozesses
in sich. 1916 siedelt seine Familie nach Petrograd um, damit
Schlomo-Chaim Kontakt mit den akademischen Mathematikern und
Logikern der russischen Hauptstadt aufnehmen konnte.
|
In Petrograd
besuchte der inzwischen sechsundsechzigjahrige Schlomo-Chaim
regelma.ig das mathematische Seminar an der Universitat,
hielt Vortrage dort und in den Sitzungen der Akademie der
Wissenschaften. Er wurde von Kollegen als gebildeter und
verstandiger Gesprachspartner geschatzt, aber seine eigene
Forschung fand keine Resonanz. Die akademische Zeitschrift
Mathematische Nachrichten in Petrograd lehnte seinen
Artikel ab. Begrundung: Seine Ausfuhrungen hatten weder mit
der mathematischen noch mit sonst irgendeiner Realitat,
sondern nur mit religioser Mystik zu tun. |
Sein Sohn
Israel war in dieser Zeit kaum noch religios. Der Wind der
Revolution wehte in seinem Kopf. Er kummerte sich aber um
die Familie und arbeitete mit leichtem Herzen, um seine
jungeren Geschwister zu ernahren. Er war ihnen auch wie ein
kleiner Vater. Fur Schlomo-Chaim mit seinem streng
religiosen Leben, seinen mathematischen Ubungen und
religiosen Gedichten in hebraischer Sprache hatte er kein
Verstandnis, aber er ehrte seinen Vater und hatte vor ihm
uneingeschrankten Respekt. Gro. und kraftig, war Israel
seinem Gro.vater Genrich ahnlich und genau wie er
ausgeglichen und uberlegt. |
Im Sommer 1918
kam eines Tages Israel zu seinem Vater, der sich gerade mit
dem Thora-Studium beschaftigte, und bat ihn um seinen Segen.
Israel erklarte, da. er mit der Roten Armee in den
Burgerkrieg ziehen wolle, um die Juden vor dem wei.en Terror
zu schutzen und um fur das Allmenschheitsgluck zu kampfen.
Schlomo-Chaim verweigerte ihm den Segen. Er sagte: »Die
gebildete und kultivierte Wei.e Armee begeht unglaubliche
Verbrechen im Namen der Gerechtigkeit. Die ungebildete, aus
dem Gesindel zusammengerottete Rote Armee wird fur das
Allmenschheitsgluck noch schlimmere Verbrechen begehen, und
du wirst Schander und Morder werden. Dafur gibt’s keinen
Segen!« Israel versuchte noch, seinen Vater zu uberreden,
aber der Vater schickte ihn mit dem Satz weg: »Ein Schapiro
tut so etwas nicht. Und jetzt geh!« und vertiefte sich
wieder in seine Studien. |
2
Eine Aussage des Aussagesystems hei.t entscheidbar, wenn man
nur mit Mitteln des Aussagesystems und der Logik entscheiden
kann, ob diese Aussage wahr oder falsch ist. Die Aussagen,
uber welche es nicht moglich ist, eine solche Entscheidung
zu treffen, hei.en unentscheidbare Aussagen oder Satze.
|
Resonanzlosigkeit erdruckte Schlomo-Chaim. 1924
veroffentlichte Kurt Godel in den Mathematischen und
Physikalischen Heften in Berlin den Grundstock seines
Beweises uber die Existenz und Notwendigkeit von
unbeweisbaren Satzen in den der Arithmetik aquivalenten
Aussagesystemen. Schlomo-Chaim uberlegte, einen Brief an
Kurt Godel zu schreiben, und doch verzichtete er darauf.
|
Sowohl bei
Kurt Godel als auch bei Schlomo-Chaim Schapiro bleibt eine
wichtige Frage offen: Wie viele unentscheidbare Satze kann
es in einem Aussagesystem geben? Klar, unendlich viele, aber
zu welchem Anteil? Schlomo-Chaim stellte seine »Gnostische
Hypothese« auf: Der Anteil unentscheidbarer Satze in der
unendlichen offenen Menge nichttrivialer Satze kann in einem
speziell konstruierten Aussagesystem asymptotisch beliebig
klein werden. Aber auch das konnte er nicht
veroffentlichen. |
Mittellos,
verdiente Schlomo-Chaim in Petrograd wie spater in Leningrad
den kummerlichen Lebensunterhalt fur seine Familie als
Buchhalter bei einer kleinen Schuhfabrik. Er bekam so wenig,
da. die Familie ohne die Arbeit von Israel als Lastentrager
im Petrograder Hafen seit seinem siebzehnten Lebensjahr
sicher hatte verhungern mussen. |
Unterdessen
verschlo. sich Schlomo-Chaim den anderen gegenuber immer
mehr. Es ware falsch zu sagen, da. er depressiv wurde, er
wandte sich immer mehr nach innen und entwickelte
autistische Verhaltenszuge. Er verlor den Kontakt zu seinen
kleineren Kindern, und nur seiner Frau und Israel vertraute
er noch seine Gedanken an, weil nur noch die beiden bereit
und willens waren, ihm zuzuhoren. |
Seit den
spaten zwanziger Jahren glaubte Schlomo-Chaim daran, da. die
geistige Leistung des Menschen ein »Seinsopfer« sei und da.
Gott alleine daruber verfuge, zwar gerecht, aber
unergrundbar, und das tue dem Menschenherzen unendlich weh.
Seitdem kummerte sich Schlomo-Chaim um seine Werke nicht
mehr, sobald er sie beendete, seien es mathematische
Ausfuhrungen oder Gedichte. Die Rente, die er in dieser Zeit
bekam, reichte gerade fur eine Monatsfahrkarte, seine Frau
Hannah bekam eine Rente als »heldenhaft kinderreiche Mutter«
fur ihre sechs Kinder. Das reichte damals gerade, um
notdurftig uber die Runden zu kommen. |
Im Alter
sprach Schlomo-Chaim in seinem Inneren immer ofter mit dem
schon seit langem verschiedenen Makari. Die Erforschung
prinzipieller Grenzen der Begreifbarkeit Gottes gelang ihm
wenigstens zum Teil, doch spielte ihm das Leben einen
Streich, und die ganze Erkenntnis schien zusammen mit dem
frommen Forscher in die unabwendbare Vergessenheit zu
versinken. |
Die Stimmen in
seinem Kopf machten eine ganze Gesprachsrunde aus. »Auch das
vergeht«, sagte sein Urahn und Namensvetter Konig Salomo.
»Ein Schutzstein, Saphir zum Beispiel, oder ein Spruch mu.
gut gefa.t werden, damit er richtig wirke«, belehrte ihn
Kalam. »Schon jetzt kennt dich keiner«, schrie der sich
immer im Recht wissende Jizchak. Mendel-Hendrik riet, die
Erkenntnis im Privatdruck zu veroffentlichen, und argerte
sich, ob Schlomo-Chaim nicht mehr wisse, wo seine
Aufzeichnungen seien. Nehamiah ermunterte ihn: »An dem
Verstandnis, was hier richtig zu tun ist, mussen wir bewu.t
arbeiten.« Genrich trostete: »Du wirst den richtigen Weg
schon finden.« Makari sagte wieder, da. es alleine der
Lebensproze. an sich sei, mit dem die Grenzen der
Begreifbarkeit Gottes erfahren werden konnen. »Denk an deine
Kinder«, flusterte Hannah. Gott lachelte. |
Schlomo-Chaim rief Israel zu sich und bat ihn, einige
schwierige Satze auswendig zu lernen und seinen zukunftigen
Kindern beizubringen, damit sie sie auch ihren Kindern
weitergaben |
und so weiter, bis jemand
aus der Familie entscheiden konne, ob die Satze von
Schlomo-Chaim, die ich hiermit aufgeschrieben habe,
|
seien.
Mein Vater hat dies getan, ohne je ein Wort davon zu
verstehen, aber in der Uberzeugung, da. er damit die Pflicht
des Gebots, die Eltern zu ehren, erfullte. |
Ich
meinerseits habe jahrelang forschen mussen, um aus dem
auswendig Gelernten von meinem Vater Israel, aus wenigen
Notizen, die von Schlomo-Chaim geblieben sind und aus
eigenen Studien eine zusammenhangende Vorstellung uber das
Leben von Schlomo-Chaim und uber seine Beweggrunde zu
erarbeiten. Dabei hatte ich oft das Gefuhl, da. sich etwas
in mir offne und ich die Stimme meines lieben Gro.vaters
Schlomo-Chaim, den ich nie gekannt habe, wahrnehme, und da.
ich von dieser Stimme unendlich dankbar lerne. |
Die
Verantwortungsfahigkeit eines Menschen ist naturlich immer
individuell. Schlomo-Chaim fragte nach dem maximal moglichen
Grad menschlicher Verantwortung, der mit dem Begriff
Verantwortung noch vertraglich sei. Diesen Grad setzte
Schlomo-Chaim dem Ma. gleich, in welchem der Mensch in der
Lage sei, echte Entscheidungen zu treffen. Der Anteil des
Entscheidbaren am Ganzen ist nach Schlomo-Chaim das Ma. der
maximal zumutbaren Verantwortung. |
Hiermit sah
Schlomo-Chaim zwei weitere Probleme verbunden: das Problem
der Erkenntnis des Anteils des Entscheidbaren, um die
Verantwortungspflicht nicht zu vernachlassigen, weder durch
Unterlassung noch durch Ubertreibung; das Problem des
Willens, also der Umsetzbarkeit von Entscheidungen, die
dadurch auch zur Entscheidungsfahigkeit gehort. |
Beide Probleme
hangen sowohl mit der Lebenspraxis als auch mit der
Erkenntnis Gottes als oberstem Schopfungsprinzip zusammen.
Letztlich ging es Schlomo-Chaim darum, an der Schopfung
pflichtgema. und freudig teilzunehmen und keinen Unfug mit
dieser Teilnahme zu treiben. |
Nun ist der
menschliche Geist laut der »Gnostischen Hypothese« von
Schlomo-Chaim im Prinzip fur nahezu alles
verantwortungsfahig, wenn er sich damit lange und ernst
genug beschaftigt, weil »der Anteil des Unentscheidbaren in
einem verantwortungsbewu.t gefuhrten Lebensproze.
asymptotisch beliebig klein werden kann«.
Verantwortungsbewu.te Selbstfuhrung, langes Leben und gute
Bildung sind daher die Pflichten des religiosen Menschen. In
unserer Familiengeschichte gibt es dafur genug Beispiele.
Der Ungebildete kann nicht gut fromm sein. |
Schlomo-Chaim wurde langst klar, da. der Streit zwischen ihm
und Makari letztlich dem Streit uber die Henne und das Ei
ahnelte. Die Geschichte ist ein Aussagesystem uber den
Lebensproze.. Sie steuert das Leben und wird zugleich von
ihm getragen. |
Als
Achtzigjahriger beschaftigte sich Schlomo-Chaim mit der
Geschichte seiner Familie. Er ordnete Ereignisse,
archivierte Dokumente und verfa.te die Familienchronik in
sieben gro.en gebundenen Heften. |
Im Jahre
1936 kam sein Sohn Israel eines Tages verzweifelt und au.er
Atem und sagte, da. er auf der Flucht sei, verfolgt von der
Miliz und der GPU. Die Verfolger waren ihm bis zum Wohnblock
gefolgt, und es war klar, da. es nur um Minuten gehen
konnte, bis sie auch die Wohnung finden wurden.
Schlomo-Chaim befahl Israel, das Laken aus dem Bett zu
holen. Er wickelte die alte von Genrich geschriebene
Thora-Rolle in das Laken ein, legte sie Israel auf die
rechte Schulter, segnete ihn und sagte: »Jetzt geh. Sie wird
dich beschutzen.« Israel ging |
ruhig mit dem gro.en wei.en
Gepackstuck auf der Schulter an seinen Verfolgern dicht
vorbei. Sie haben ihn einfach nicht gesehen. |
Als
Schlomo-Chaim das Sterben nahe wahnte, gab er das
Familienarchiv mit allen Gegenstanden an Ilja Petrowitsch
Jawitsch, einen Freund und Lehrer von Israel, zum
Aufbewahren, bis Israel in der Lage sein wurde, die Sachen
wieder an sich zu nehmen. Ilja Petrowitsch Jawitsch war
Kunstsachverstandiger der Eremitage noch vor der
Oktober-Revolution 1917 und blieb es auch in den
Sowjetzeiten. So hatte Jawitsch sowohl Verstandnis fur den
ihm anvertrauten Schatz als auch gute Moglichkeiten, ihn
aufzubewahren. |
Schlomo-Chaim
starb am 18.Mai 1938 in Leningrad im Alter von
achtundachtzig Jahren. Israel wurde benachrichtigt und kam
zum Begrabnis. Als er und der damals vierzehnjahrige Ljolja
(Lew Bimman) auf dem Ruckweg vom Friedhof zusammen in der
Stra.enbahn fuhren, sahen sie einen angeheiterten Mann mit
groben Gesichtszugen, der die Fahrgaste mit ubertriebener
Gestik aufklarte: »Hauptsache Ordnung! Wer sich ordentlich
auffuhrt, hat immer recht!« Plotzlich brach Israel in lautes
Lachen aus. »Wie kannst du nur«, schamte sich Lew fur ihn,
»der Kaddisch ist kaum noch verklungen, und du lachst.«
Israel schien unbekummert amusiert zu sein und antwortete:
»Mein Vater lacht in mir, diesen Idioten zu horen.«
|
Nachdem sein
Vater sich 1918 geweigert hatte, ihn zu segnen, zog Israel
in den Burgerkrieg als Rotarmist unter dem falschen Namen
Boris Borissow, weil sein Vater sagte, da. »ein Schapiro so
etwas nicht tut«. |
Bald wurde der
gerade achtzehn gewordene Israel Kommandeur einer
Kosakenschwadron und bekam den Befehl, alle Bewohner –
Frauen und Kinder – von zwei bereits eingenommenen Stanizen
zu massakrieren, die Hauser zu verbrennen und die Stanizen
dem Boden gleich zu machen. Er besann sich auf den nicht
erhaltenen Segen seines Vaters und beschlo. zu desertieren.
In einem Meeting uberredete er die meisten seiner Kosaken,
auch zu desertieren. Israel verlie. die Rote Armee als Boris
Borissow und tauchte im zivilen Leben wieder als Schapiro
auf. Das rettete ihn, weil er ru.land- und dann auch
allunionsweit als Kriegsverbrecher und Deserteur noch
Jahrzehnte lang gesucht wurde. |
Diese
Ereignisse haben ihn tief religios gemacht. Jedoch ubte er
die kultische Seite seiner Religion im Verborgenen. Die
Erfahrungen in der Armee hatten ihn uber das Wesen des
Sowjetsystems genug aufgeklart. |
In Petrograd
arbeitete Israel wieder als Lastentrager im Guterhafen und
machte Abitur an einer Abendschule. Danach studierte er
Wirtschaft im »Institut der Roten Professur« und wurde
Professor fur Wirtschaft an der Petrograder Polytechnischen
Hochschule. Der Sozialstatus »Arbeiter, Bauernsohn« machte
Israel den Aufstieg im Staate der Diktatur des Proletariats
leicht. |
In Leningrad
kummerte sich Israel um die soziale Versorgung und um die
gewerkschaftliche Integration von Wissenschaftlern. Er
grundete einen »Klub der Wissenschaftler in Lesnoje«. Dieser
Klub wurde spater in ein »Haus der Wissenschaftler«
verwandelt, auf dessen Basis die Mitglieder bis heute
soziale und kulturelle Unterstutzung bekommen. |
1936 wurde
Israel einem Ehrengericht der Polytechnischen Hochschule
unterworfen, weil er in einer offentlichen Vorlesung zu
sagen gewagt hatte, da. die marxistisch-leninistische
Wirtschaftslehre nicht die allerletzte Wahrheit, sondern nur
eine Zwischenstufe auf dem Wege zum richtigen okonomischen
Wissen sei und da. es die Pflicht des sozialistischen
Wissenschaftlers sei, an der Verfeinerung dieser Lehre zu
arbeiten und empirisch zu forschen. Diskutiert wurde, ob die
Administration der Hochschule den Antrag bei der GPU auf die
Verfolgung von Professor Schapiro als »Feind des Volkes«
stellen solle. Es wurde beschlossen, abzuwarten, das
Verhalten von Professor Schapiro ein Jahr lang systematisch
zu beobachten und ihm fur diese Zeit offentliche Auftritte
zu untersagen. |
Als Israel
nach dieser Versammlung betrubt und nachdenklich nach Hause
ging, wurde er am Newski Prospekt auf offener Stra.e
ausgerechnet von seinem ehemaligen Politkommissar erkannt.
»Boris Borissow«, schrie er, »haltet den Verbrecher!« Die
Miliz und eifrige Freiwillige rotteten sich schnell ganz im
Geiste dieser Zeit zum Verfolgungstrupp zusammen. Nach
langem und ermudendem Lauf haben sie den Verbrecher kurz aus
dem Blick verloren. Die zur Hilfe gerufene GPU-Mannschaft
fing an, den Wohnblock zu umstellen. Den gro.en Mann, der
ein schweres wei.es Paket gemachlich auf der Schulter
vorbeitrug, beachtete keiner von ihnen. Die totale
Durchsuchungs- und Befragungsaktion in diesem Wohnblock
ergab nichts. Der Verbrecher Boris Borissow hatte sich wie
in Luft aufgelost. Mit der Thora auf der Schulter stieg
Israel Schapiro in den Zug nach Moskau. |
Unterstutzt
von Iwan Pawlowitsch Bardin, seinem ehemaligen Lehrer im
»Institut der Roten Professur«, der inzwischen Mitglied der
Akademie der Wissenschaften der UdSSR geworden war, begann
Israel mit der Organisation der empirischen
Wirtschaftsforschung im Bereich der Eisenerzmetallurgie. Er
wurde fur die Erarbeitung des gemeinsamen
Forschungsproposals der Akademie der Wissenschaften und des
Ministeriums fur Schwarzmetallurgie bei der sowjetischen
Regierung verantwortlich. Da die Schwarzmetallurgie auf
Kohle und Koks angewiesen war, besuchte Israel oft das
Ministerium fur Kohleindustrie, wo er 1938 seine zukunftige
Ehefrau Berta Gorewa, geborene Schaz, traf. |
In der Ehe
brannte es wie in einem Hochofen. Das hei.e Temperament
meiner kohleaugigen Mutter traf sich gut mit der eisernen
Geduld des Vaters. Letztlich haben sie mich am Ende des
Gro.en Vaterlandischen Krieges 1944 ausgeschmolzen. Zuvor
aber passierte einiges Erzahlenswerte. |
Berta kam in
das Kohleministerium, um Arbeit zu suchen. Israel sah sie,
beugte inmitten des Publikumsverkehrs vor ihr das Knie und
bat sie um ihre Hand. Sie ignorierte ihn. Er verfolgte sie.
Nach einem Jahr willigte sie ein. |
Ihr erster
Mann, Naum Gorew, geborener Edelmann (oder Rosenblum? Das
Gedachtnis fangt an, mir Streiche zu spielen), trat sehr
fruh der Sozialdemokratischen und dann der Kommunistischen
Partei bei und nahm das Pseudonym Gorew an. 1921 wurde er
als oberster Sicherheitsbeamter nach Turkestan in
Zentralasien abkommandiert, um dort die Sowjetmacht zu
festigen. Die damals funfzehnjahrige Berta aus Odessa
brannte mit ihm durch. In diesem Alter konnte sie ihn nur
dort heiraten. |
Mehrfach
ausgezeichnet, wurde Gorew nur wenige Jahre spater der fur
die Sicherheit verantwortliche Kommandant des Kremls in
Moskau. Die junge Sowjetrepublik hatte damals vier gro.e
Lincoln-Cabrios fur Reprasentationszwecke gekauft. Eins
davon hatte Berta Gorewa zu ihrer Verfugung, von da an
verstand sich die zwanzigjahrige Schonheit als Vierte Lady
im Staat. |
Der kluge,
weitsichtige Naum Gorew verstand bereits 1931, da. er als
altgedienter Parteiexponent eine der nachsten
Parteisauberungen nicht uberleben und da. seine geliebte
Frau unabwendbar in Mitleidenschaft gezogen wurde. Um sie zu
retten, lie. Gorew sich zum Schein von ihr scheiden, mietete
fur sie eine neutrale, unauffallige Wohnung, wo er sie
konspirativ besuchen konnte, und zwang sie, einen
brauchbaren Beruf zu erlernen. Berta qualifizierte sich zur
Wirtschaftsingenieurin in den Bereichen Polygraphie und
Energieversorgung. |
1935 wurde
Naum Gorew verhaftet und bald danach hingerichtet.
Rechtzeitig gewarnt, tauchte Berta im Untergrund unter. 1938
gab es eine kurze Entspannungswelle im staatlichen
Verfolgungswahn: Als Vorwand fur die nachste Sauberung unter
den Sicherheitskraften wurde eine ganze Reihe von fruher
hingerichteten Parteifunktionaren rehabilitiert. In der
veroffentlichten Liste der Rehabilitierten fand Berta den
Namen Gorew. Sie tauchte aus dem Untergrund auf und kam in
das Kohleministerium, um Arbeit zu suchen. |
Als Israel um
ihre Hand warb, hatte Berta die Hoffnung noch nicht
aufgegeben, da. Naum die Verfolgung in einem entfernten
Konzentrationslager irgendwie doch uberlebt haben konnte.
1939 bekam sie die offizielle Bescheinigung, da. Naum 1935
erschossen worden war, und willigte ein, Israel zu heiraten.
|
Bald wurde
Berta im Kohleministerium Technische Leiterin der
Controlling-Gruppe. Sie mu.te sehr viel reisen und sich um
die Produktivitat verschiedener Kohleabbaubetriebe in der
ganzen Sowjetunion kummern. Der Zweite Weltkrieg kam nach
Ru.land, als sie 1941 die Bergwerke des Kusnezker Beckens im
Osten inspizierte. Sie brauchte zwei Monate, um gegen den
Hauptreisestrom Moskau zu erreichen. |
Ihr
Ministerium, wo sie sich direkt vom Bahnhof aus meldete, war
mit der Evakuierung fast fertig. Sie bekam nur drei Tage, um
ihre Controlling-Gruppe und ihre Familie fur die Evakuierung
parat zu machen, aber Israel war nirgendwo zu finden, weder
zu Hause noch an seinem Arbeitsplatz. Als Berta erschopft
dem Bett naherkam, sah sie einen Zettel auf ihrem Kopfkissen:
»Liebling, ich konnte nicht anders. Hab keine Sorgen, bin an
die Front gegangen. Ich mu. gegen die Faschisten kampfen, um
das sowjetische Volk, alle Juden und insbesondere dich zu
schutzen. Denk an mich, und Gott wird mir helfen. Immer mit
dir im Herzen.« |
»Idiot!« sagte
die Vierte Lady, die die Geschichte von Boris Borissow
uberhaupt nicht kannte, weil Israel eben ein Romantiker,
aber kein Schwatzer war. Sie ha.te und furchtete Stalin und
die Sowjetmacht, weil sie ihnen ihren Gorew nicht verzeihen
konnte, aber das Leben ihres zweiten und auch geliebten
Mannes zu riskieren, war sie nicht im geringsten bereit. »Gott
wird mir helfen, warte nur«, murmelte sie ironisch
verbittert dem Zettel nach, ohne zu merken, da. Er schon
dabei war. |
Berta
bestimmte zwei Vertreter fur die Evakuierung ihrer
Controlling-Gruppe und bekam als Evakuierungsleiter vom
Stellvertretenden Minister die Erlaubnis, ihre Gruppe eine
Woche spater auf eigene Verantwortung einzuholen. Au.erdem
erstellte sie fur ihre Vertreter einen genauen Zeitplan fur
die vorbereitenden Ma.nahmen und fur die Organisation der
Abreise. Danach erkundigte sie sich am zustandigen
Einberufungspunkt uber ihren Mann. Israel hatte sich als
Freiwilliger fur die Volkswehr gemeldet und war bereits vor
einem Monat abgezogen. |
Jetzt stand
ihr das Schwierigste bevor. Wer wei. schon, was sich in zehn
Jahren alles andern kann oder auch nicht. Es blieb ihr
nichts anderes ubrig, als ihre alten Beziehungen ins Spiel
zu bringen. Das Risiko war nicht uberschaubar. Berta meldete
sich fur die Sprechstunde bei dem damals allmachtigen
Abakumow an. Er empfing sie sofort, als er ihren Namen
horte. |
Funf Tage
spater brachte ein Woronok, so nannte man die
schwarzlackierten Einsatzwagen der GPU, den nichts
begreifenden Israel zu ihr nach Hause. Der begleitende
Wachoffizier quittierte bei Berta Gorewa die Ubergabe,
salutierte lachelnd, schlug die Hacken zusammen und
verschwand. Nicht gleich verstand Israel, da. er frei und
bei seiner Familie war. Berta und ihr Mann erreichten die
Controlling-Gruppe des Kohleministeriums in der Evakuierung
auf dem Ural nur mit geringer Verspatung. |
Von rund einer
halben Million Moskauer Volkswehrsoldaten sind in wenigen
Monaten nicht mehr als siebzig am Leben geblieben. Abakumow
selbst wurde bei der nachsten Sauberungsaktion abgesetzt und
auf Stalins Befehl erschossen. |
Wahrend
die Familie evakuiert war, wurde das von Schlomo-Chaim
geordnete Archiv in einem Bombenangriff auf Leningrad
zusammen mit der Wohnung von Ilja Petrowitsch Jawitsch und
seiner einmaligen privaten Kunstsammlung ganzlich zerstort.
Ilja Petrowitsch und seine Frau uberlebten, weil sie zur
Zeit des Angriffs nicht zu Hause waren. Mein Vater
|
machte mich mit der Familie
Jawitsch bei einem Besuch in Leningrad 1956 oder 1957
bekannt, wobei Ilja Petrowitsch uber das Schapiro-Archiv
erzahlte, was er noch wu.te. |
Die Zeit der
Evakuierung und die Ruckkehr meiner Eltern in das vom Krieg
gezeichnete Moskau will ich hier aus Zeitmangel
uberspringen, obwohl es da auch einige fur die Familie
wichtige Ereignisse gab. |
Mein Vater hat
mich Baruch genannt. Das ist ein sehr alter Name und
bedeutet auf hebraisch der Gesegnete. Die Standesbeamtin
verweigerte ihm aber die Eintragung. Seit 1943 durfte man
Kindern auf dem russischen Territorium entweder russische
oder neutrale Namen geben, aber nicht Namen, die eine
nichtrussische Volkszugehorigkeit betonen wurden. Bevor ich
erwachsen wurde, konnte ich nicht verstehen, wieso die
sowjetische Regierung wahrend des bedrohlich schweren
Krieges noch Zeit und Leute hatte, um diese Beschrankungen
in der Namensgebung zu beschlie.en und durchzusetzen. Spater
erfuhr ich, da. dies mit der Stalinschen Legitimation der
Volkerdeportationen zusammenhing. Der Name Baruch stand auf
jeden Fall nicht in der Liste der zugelassenen Namen.
|
Wegen der
Klangahnlichkeit wurde ich mit dem russischen Namen Boris
genannt. Der Name Boris ist mit dem Wort Preu.e verwandt und
bedeutet der Kampfer. Dem Vater war auch das recht. Er
meinte, da. die Namen eigentlich im Herzen und nicht blo.
auf dem Standesamt gegeben werden. Er nannte mich zu Hause
Baruch und oft auch Boris Borissow. Meine sensible Mutter
verstand die Ansprache Boris Borissow als Kosename nicht und
argerte sich eifersuchtig, weil sie darin etwas verspurte,
wozu sie keinen Zugang hatte und wodurch sie sich
ausgeschlossen fuhlte. |
Die empirische
Wirtschaftsforschung im Bereich der Eisenerzmetallurgie war
keine leichte Aufgabe. Es fehlte alles: Verstandnis der
Notwendigkeit, Mittel, administrative und wissenschaftliche
Infrastruktur. Wahrend seines achtundzwanzigjahrigen
beruflichen Lebens in Moskau schuf Israel Schapiro folgende
Institutionen, die er in der Anlaufzeit auch selber leitete:
Rat fur die Erforschung der Produktivkrafte beim GOSPLAN der
UdSSR (SOPS); Bibliographische Kommission, die das
umfangreiche Bibliographische Handbuch uber Eisenerze unter
Israels Anleitung und Redaktion herausgab; Kommission fur
die langfristige Wirtschaftsplanung beim GOSPLAN der UdSSR;
Kommission fur die multidisziplinare Erforschung der Kursker
Magnetischen Anomalie der Akademie der Wissenschaften der
UdSSR; den in den zwanziger Jahren gegrundeten Klub der
Wissenschaftler in Lesnoje in Leningrad erwahne ich hier
noch einmal vollstandigkeitshalber. |
Trotz des
beruflichen Erfolgs wurden Israel und Berta Schwierigkeiten
nicht erspart. 1952 entging Israel einer Verhaftung nur
knapp, denn er hatte versucht, zugunsten eines in die
»Arzteaffare« als Nebenangeklagter verwickelten Freundes
auszusagen. Nur Stalins Tod 1953 stoppte die schon
vorbereitete Deportation der Juden aus den Zentralgebieten
nach Sibirien. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie die
russischen Nachbarn, Sanitartechniker und Stra.enfeger im
Sommer 1952 in unserer Wohnung die Mobel aufteilten, wer was
nach unserer Deportation bekommen wurde. Es gab auch
Streitereien unter ihnen. Bis April 1953 mu.ten meine Eltern
die Klebezettel auf den Mobeln dulden, weil die zukunftigen
Besitzer ihren Eigentumsanspruch regelma.ig kontrollierten
und sich gegenseitig bespitzelten. Die Klebchen »Onkel
Wassja, Stra.enfeger« auf der Anrichte und »Kostja
Martaschow, Techniker der Hausverwaltung 1/2« auf dem
Klavier stehen mir auch heute noch vor Augen. »Also, Junge«,
scharfte mir der Stra.enfeger Wassja ein, »wenn wer das hier
abnimmt, dann kommst du gleich zu mir. Sonst buh.
Verstanden?« |
1956
offneten sich die GULAG-Konzentrationslager. Die
Uberlebenden wurden massenhaft entlassen. Die meisten kamen
krank heraus. Sie hatten weder ein Zuhause noch Arbeit.
Israel, der in seinen Institutionen uber Arbeitsplatze
verfugte, stellte so viele ehemalige Haftlinge ein wie nur
moglich. Eines Tages, als Israel schon alle vorhandenen
Stellen besetzt hatte, bat Berta ihn, fur ihren Odessaer
Spielkameraden und spateren engsten Mitarbeiter ihres ersten
Ehemannes Gorew namens Notarjew, der achtzehneinhalb Jahre
in den KZs verbracht hatte, eine Stelle zu finden. Israel
machte Notarjew zu seinem Stellvertreter in der
Bibliographischen Kommission. |
1958 wurde
Israel beschuldigt, zwei Millionen Rubel veruntreut zu
haben. Notarjew, der Hauptzeuge war, machte meinen Eltern
den Vorschlag, da. meine Mutter Israel verlassen und ihn
heiraten solle, dann wurde er Israel aus dem Schlamassel
heraushelfen. Notarjew war schon als Jugendlicher in meine
Mutter verliebt gewesen, aber der altere Gorew hatte bei ihr
mehr Gluck gehabt. Notarjew trat in den drei.iger Jahren dem
Stab von Gorew bei, um, wie er sagte, in Bertas Nahe zu sein
und ihr zur Verfugung zu stehen, wenn mit Gorew irgend etwas
passieren sollte, weil damals vielen etwas passierte, und
ihm selbst passierte es spater auch. Schade nur, da. Berta,
als es Gorew passierte, dummerweise einfach verschwunden war
und sich bei ihm leider nicht gemeldet hatte. |
Jetzt aber sei
die Zeit ganz anders. Ins Gefangnis komme man nur, wenn man
wirklich ein Verbrechen begangen habe, wie mein Vater mit
den zwei Millionen Rubeln zum Beispiel. Aber er, Notarjew,
habe genug Verbindungen, wo man sie brauche, um meinen Vater
von der Geschichte zu befreien oder halt umgekehrt, um ihn
im Gefangnis oder im KZ zu den Wurmern zu schicken.
|
Mit diesem
Vorschlag kam Notarjew zu uns nach Hause und trug ihn
ungeniert und triumphierend in meiner Anwesenheit vor. Meine
Mutter flog nahezu uber den Tisch zu Notarjew und packte ihn
so schnell am Hals, da. er sie nicht abwehren konnte. Sie
wurgte ihn, zerkratzte ihm in blinder Wut Haut und Haare, da.
sein Gesicht blutete. Es waren aber keine ernsten
Verletzungen. Notarjew besann sich und fing an, meine Mutter
gekonnt zu schlagen. Dann fiel mein Vater uber ihn her. Zu
zweit schmissen meine Eltern Notarjew buchstablich die
Treppe hinunter. Er rannte schreiend weiter, da. sie es noch
bereuen wurden. Die Untersuchungszeit endete fur meinen
Vater nach zwei Jahren mit voller Anerkennung seiner
Unschuld. Wie in einer dummen Anekdote fand man die
fehlenden zwei Millionen Rubel eben bei dem besagten
Notarjew in der Wohnung. Aber seine Beziehungen reichten aus,
um die weitere Untersuchung einzustellen. Danach arbeitete
Notarjew als Sachbearbeiter in der Staatsanwaltskanzlei.
|
Die
Kommission fur die langfristige Wirtschaftsplanung war
Lieblingskind und zugleich Hauptinstrument, mit dem Israel
Forschungsauftrage vergeben konnte. Die Notwendigkeit, die
Einheiten »pro Kopf« in den langfristigen Wirtschaftsplanen
zu benutzen, verschaffte Israel Zugang zu den geheimen
statistischen Daten uber die Bevolkerungsentwicklung und
-bewegung in der Zentralen Statistischen Verwaltung. Seine
Hochrechnung fur die Anzahl der ermordeten Opfer des
sowjetischen Regimes zum funfzigsten Jahrestag der
Oktoberrevolution 1917 ergab eine schreckliche Zahl: rund
achtzig Millionen, die Kriegsopfer waren dabei nicht
mitgezahlt. |
Berta konnte
viele Nachte lang vor Sorge nicht schlafen, als sie von den
achtzig Millionen Opfern als Nebenergebnis von Israels
empirischer Forschung horte. Es kostete sie viel Muhe und
Einfallsreichtum mit Szenen, Tranen und Vorwurfen, um Israel
vor der Veroffentlichung dieser Zahl und damit vor der
Dissidentenkarriere zu bewahren. Er wurde damit die ganze
Familie, den Freundeskreis und sein Lebenswerk zerstoren,
wahrend man die Toten durch die Selbstaufopferung nicht
wieder lebendig machen konne. Ihr Hauptargument aber war,
da. sie ihm einmal das Leben gerettet und jetzt das Recht
habe, uber sein Leben zu bestimmen und ihm den
Selbstaufopferungsakt zu verbieten. |
Letztlich
beugte sich Israel ihrem starken Willen, aber Boris Borissow
bekam gewaltige Gewissensprobleme. In dieser Zeit begann
auch Israel, Stimmen zu horen. »Nie und nimmer kann dein
Leben jemandem au.er dir und deinem Gott gehoren«, horte er
Schlomo-Chaim sagen, »sonst bist du ein Sklave und kein
Jude.« »Im Prinzip ja, aber die judische Ehefrau und Mutter
hat hierfur ihre Sonderrechte«, mischte sich Genrich ein.
»Insbesondere die Ehefrau«, fugte jemand hinzu, den Israel
nicht kannte, er wu.te aber, da. er auch sein Vorfahr und
ein Bet-Din-Richter war, »weil sie mit dir vertraglich
verbunden ist.« »Der Ehevertrag regelt aber die
Gewissensfragen nicht«, widersprach Schlomo-Chaim, »und
schrankt die Gewissensfreiheit keineswegs ein.« »Der
Ehevertrag erlegt Verantwortung auf. Ein Verheirateter ist
der Vorfahr seiner Nachkommenschaft und hat Pflichten vor
ihr und vor seiner Frau«, belehrte der Richter. »Und wenn er
ein Feigling ist?«, erhob Boris Borissow die Stimme.
»Feigling ist er nicht«, sagte Israel. »Er ist verruckt. Ein
verruckter Tolpel ist er«, beklagte sich Berta, »Leichtsinn
ist sein Name, die romantische Selbstherrlichkeit!« »Es geht
nicht darum, wer er ist, sondern wie ihm mit seinem Problem
geholfen werden kann«, sagte Schlomo-Chaim. »Schau«,
versuchte Genrich die Diskussion zu beenden, »dein Vorfahr
Nehamiah war nicht weniger fromm als du, aber viel weiser.
Deswegen konnte er einen unnotigen Konflikt vermeiden, ohne
seine Meinung zu verbergen. Vielleicht wartest du ein wenig,
bis der richtige Moment kommt?« »Denk an deine Kinder«,
flusterte Hannah. Ihre Stimme war zartlich und warm. Noch
eine dunne Stimme, die leiseste, die aber alle anderen
ubertonte, sprach nicht mit Wortern, sondern tat einfach
weh. |
Ich sagte, da.
wenn sich mein Leben weiter so entwickeln wurde wie bisher,
ich wahrscheinlich die Sowjetunion bald wurde verlassen und
nach Israel auswandern mussen. Dann wurde ich uber Vaters
Hochrechnung offentlich berichten.
3
Dieser Vorschlag entspannte die Lage. Mehr haben wir damals,
1970, daruber nicht geredet.
3
Das tat ich 1976 und 1978 in Deutschland. Erstaunlich ist,
was fur einen Riesenwiderstand ich sowohl bei den Medien als
auch bei den Zuhorern im offentlichen Vortrag uberwinden
mu.te. Viele wollen es nicht wissen, weil sie dieses Wissen
nicht ertragen konnen. Eben das schutzt die Tater, da. ihre
ungeheuerliche Tat dem menschlichen Ermessen unbegreiflich
bleibt und da. hinter den gro.en Zahlen, die dem Unendlichen
naher als dem Alltaglichen sind, nicht konkrete Menschen mit
ihren Leiden und Sorgen gesehen werden. |
Meine
Absicht, nach Israel auszuwandern, traf auf die heitere
Zustimmung meines Vaters und auf dusteren Schmerz bei meiner
Mutter. 1972 bereitete ich meine Ausreise nach Israel vor.
Da passierte mit mir aber etwas, was meine lieben Eltern
nicht betraf und was meine Ausreise damals vereitelte. Im
Weiteren lernte ich Hella Gaumnitz Ende 1973 kennen, im
Januar 1975 habe ich sie unter abenteuerlichen Umstanden
geheiratet und bin im Dezember desselben Jahres nach
Deutschland, wo meine Frau herkommt, emigriert. |
Als ich den
Ausreiseantrag beim zustandigen Bezirks-OWIR stellen wollte,
fand ich dieses als ein Provisorium in den Raumen einer
Polizeistation. Ich kam zufallig kurz vor der Mittagspause
und mu.te eine ganze Stunde warten. Alle Turen waren zu. Ich
durfte im Flur sitzen. Au.er mir war niemand da. Ich hatte
kein Buch dabei. Vor Langeweile begann ich mich umzuschauen.
Die Wande waren voll von alten Steckbriefen, eine ganze
Sammlung von ihnen. Ich schaute die ziemlich verdachtig
wirkenden Steckbriefgesichter an und versuchte, mir die
Menschen dahinter vorzustellen. |
Ein Gesicht
zog meine Aufmerksamkeit besonders an. Auf dem alten Foto
war ein sehr junger Mann mit offenem, freundlichem Gesicht
zu sehen, mit starkem Buschelhaar, in der Rotarmistenuniform
mit der linken Hand auf dem Sabel und der Kosakenpelzmutze
unter dem rechten Arm. Sein auffallend nettes Gesicht pa.te
nicht zu der Beschreibung seiner furchterlichen Verbrechen:
|
Boris
Borissow, der am langsten gesuchte noch immer nicht gefa.te
Kriegsverbrecher. Deserteur, Saboteur und vermutlich Spion.
Stets bewaffnet und au.erst gefahrlich. |
Vereitelte am
20.Januar 1919 eine wichtige militarische Aktion der Roten
Armee im Kuban, verursachte mehrfach verschiedene
Niederlagen. Organisierte Attentate auf die fuhrenden
Offiziere der Roten und nachher der Sowjetischen Armee.
Verursachte nach dem Burgerkrieg Sabotageakte auf
industrielle Einrichtungen, Verkehrsanlagen sowie
militarische Objekte mit schweren Folgen. Wurde am 28.April
1936 bei einer Gro.razzia gefa.t, konnte jedoch entkommen.
Verursachte wahrend des Gro.en Vaterlandischen Krieges aus
Ha. auf das Sowjetvolk unerme.lichen Schaden mit vielen
Opfern. Setzte nach dem Gro.en Vaterlandischen Krieg seine
Sabotageaktivitaten fort. Zuletzt aufgefallen am 12.Januar
1953. |
Fur
Aufenthaltshinweise und Hilfe bei der Ergreifung sind eine
Geldpramie und eine Auszeichnung der Sowjetischen Regierung
ausgesetzt. |
Das Bild
des bosen Supermans vertrug sich nicht mit dem freundlichen
Gesicht des jungen Rotarmisten. Sehr ungewohnlich war auch,
da. jemand fast funfunddrei.ig Jahre lang sein Unwesen im
Lande mit dem besten Sicherheits- und Aufklarungssystem uber
zwei Kriege |
hinweg ohne einen
gravierenden Fehler treiben konnte und da. es noch
offentlich bekannt gemacht wurde. Der Sammler von Raritaten
und Kuriositaten in mir uberwand den anstandigen braven
Burger, und ich klaute den alten Steckbrief und hangte ihn
in meiner Wohnung an der Eingangstur von innen auf.
|
Zum
allerersten Mal in meinem Leben sah ich meinen Vater bla.
werden, als er mich bald darauf besuchte und den Steckbrief
bemerkte. Dann erzahlte er mir eben das, was du, mein lieber
Leser, schon wei.t. Boris Borissow war der noch
erfolgreichere Podporutschik Kische des 20.Jahrhunderts,
aber in sowjetischer Manier.
|
Israel, im
funfundsiebzigsten Lebensjahr kahlkopfig mit der
Papageiennase, war auf dem Steckbrief nicht zu erkennen. Ich
erinnerte mich daran, da. ich noch niemals Fotos von Israel
vor seiner Hochzeit mit meiner Mutter gesehen hatte. Vater
bat mich, mit dem Schicksal nicht zu spa.en und das Plakat
wegzustecken. Das habe ich naturlich getan.
|
»Wenn ich sterbe, sollst du
mich in Israel begraben«, sagte Vater. »Warum?« »Damit ich
unter den ersten auferstehen kann, wenn der Meschiach kommt.«
Ich wu.te nicht, ob er scherzte: »Was wirst du machen, wenn
du auferstehst?« »Oh, es wird viel zu tun geben. Die
himmlische Burokratie wird auch nicht ohne Fehler arbeiten
konnen. Da mu. man sehr aufpassen. Die Folgen sind viel
bedeutender als bei der irdischen. Au.erdem sind die
weltweit gesehen zwei- bis dreihundert Millionen Opfer in
diesem Jahrhundert und vielleicht das Zehnfache im nachsten
auch fur sie zuviel. Irgendeine Ecke kann vergessen bleiben.
Jemand mu. aufpassen.« »Du bist heute aber optimistisch
aufgelegt«, meinte ich ironisch. »Ich bin immer optimistisch
aufgelegt«, antwortete Vater ernst. |
Am Tage, an dem ich die
Ausreiseerlaubnis bekam, bekam ich auch einen Schlag mit dem
Stein auf den Kopf und mu.te mit einer schweren Verletzung
hospitalisiert werden. Zwei Manner hielten mich plotzlich
von hinten fest, als ich vor der Wohnung meiner Eltern auf
die Stra.e trat. »Na, jetzt hei.t es Abschied nehmen,
Judlein«, flusterte mir einer von ihnen ins Ohr. Man fand
mich auf dem Burgersteig mitten im Gedrange liegend mit dem
Stein auf der Brust. Zeugen lie.en sich auf der belebten
Stra.e keine finden. |
Nach einem halben Jahr war
ich noch nicht reisefahig. Das OWIR schrieb aber, da. ich
entweder die Sowjetunion ungeachtet meines
Gesundheitszustandes verlassen oder die Ausreiseerlaubnis
neu beantragen musse, falls ich die vorhandene bis zu ihrem
Gultigkeitsdatum nicht benutzte. Noch eine Verlangerung des
Ausreisevisums aus gesundheitlichen Grunden wurde es nicht
mehr geben. |
Es wurde klar, da. ich
direkt aus dem Krankenhaus zum Flughafen gefahren werden
mu.te. Freunde und meine Mutter packten meine Reichtumer:
zwei Tonnen Bucher und Schallplatten, zwei Hosen und drei
Hemden. Dabei fand Berta das Steckbriefplakat und versteckte
es bei sich. Sie hatte Israel vielleicht auch nicht erkannt.
Aber Boris Borissow! Das horte sie so oft seit meiner
Geburt. Berta schaute aufmerksam hin und erkannte ihn, denn
sie konnte sich noch an den Anfang ihrer Bekanntschaft
erinnern. |
4
Podporutschik Kische
ist eine Figur in der gleichnamigen Erzahlung von Juri
Tynjanow. |
Zwei Monate lang zeigte
Berta nichts, war freundlich und fursorglich wie immer. Aber
eines Tages unterzog die Vierte Lady Israel einem Verhor.
Sie fragte ihn nicht aus, sie machte Vorwurfe. Wie konnte er
mit seinem bloden Boris Borissow ihr all die Jahre so
mi.trauen und nichts gesagt haben und ihr Leben einer
solchen Gefahr aussetzen, wo er ohne sie nicht einmal sein
eigenes Leben richten konne ... Israel tat lange so, als ob
er nicht verstehe, wovon sie redete. Dann zog sie –
vielleicht aus Liebe zu Effekten oder zur Macht oder weil
sie wirklich beleidigt war – den Steckbrief heraus. Israel
traf der Gehirnschlag. |
Im Krankenhaus verlie. Berta
Israel fur keine funf Minuten. Zwei Tage lang redete er
allerlei, da. er in Israel begraben werden wolle, da. Gott
wie ein Mensch herausgefordert werden musse, damit er
erkannt werden konne. Er streckte die Hand aus und futterte
unsichtbare Vogel und Tiere mit unsichtbaren Speisen. Und er
rief mich. Am dritten Tag verstummte er und erlahmte. Mama
schickte mir ein Telegramm mit der Bestatigung des
Krankenhauses, da. mein Vater im Sterben liege, damit ich
das Einreisevisum bekommen konnte. Der diensthabende Arzt
horte Vater das Herz ab, schaute in die Augen und stellte
den Tod fest. Als die Sanitater kamen, um Vater auf die
Bahre zu legen, stohnte er und rief mich oder seine Frau.
Sie legten ihn zuruck. Am nachsten Tag wiederholte sich das
Karussell. Dreizehn Tage lang. |
Als ich meinen
Einreiseantrag zusammen mit dem Telegramm in der
sowjetischen Botschaft in Bonn vorlegte, sagte mir ein
Botschaftssekretar hoflich und seine Hoflichkeit genie.end:
»Werter Boris Israilewitsch, leider konnen wir Ihrem Antrag
nicht stattgeben. Seien Sie nur logisch. Wir wissen, da. Sie
Ihrem verehrten Vater sehr viel bedeuten, genauso wie er
Ihnen. Jetzt liegt er im Sterben. Sie begrunden Ihre
Einreise mit der Notwendigkeit, von ihm Abschied zu nehmen.
Aber Sie selbst konnen nicht ausschlie.en, da. wenn Sie zum
Sterbenden kommen wurden, er dann womoglich vor Freude nicht
sturbe. Das wurde hei.en, da. Sie den Zweck Ihrer Reise
sozusagen verfehlen wurden.« |
Mit einem Sitzstreik vor der
Botschaft und Hilfe von Journalisten, Polizisten und
Schulern bekam ich endlich das Einreisevisum und kam nach
Moskau, wenige Stunden, nachdem mein Vater tatsachlich
gestorben war. |
Als Israel noch sprach,
bat er meine Mutter, eingeaschert zu werden, um mir »die
Fahrt nach Israel mit seinen Uberresten zu erleichtern«. Da
wu.te ich, da. es die Herausforderung sowohl fur Gott als
auch fur mich war: Nach judischem Religionsgesetz ist die
Feuerbestattung strengstens verboten. Deswegen war es fur
die Nazis unter anderem so wichtig, die Leichen der Juden zu
verbrennen. Ich willigte in die Kremierung ein.
|
Einen Monat taglicher
Behordengange hat es in Moskau 1976 benotigt, um die
Ausfuhrerlaubnis fur die Urne nicht einmal nach Israel,
sondern nach Deutschland, wo ich einen standigen Wohnsitz
habe, zu bekommen. In Israel dauerte der Kampf um Vaters
Begrabnis dreieinhalb Monate. Lang und beschwerlich war mein
Weg in Israel, bis das Begrabnis stattfinden konnte:
Begrabnisgesellschaften, Kibbuzim, verschiedene Politiker
mit Golda Meir vornean, die Israelische Armee,
Kommissionshearing in der Knesset, Auswartiges Amt, die
sephardischen und aschkenasischen Rabbinate.
|
Die Begrabnisgesellschaften
und die zustandigen Religionsamter verweigerten mir das
Begrabnis mit zwei stereotypen Argumenten, einem kleinen:
»Israel ist kein Friedhof fur die Moskauer Juden«, und einem
gro.en: »Der Leichnam wurde verbrannt mit der wissentlichen
Zustimmung des Verstorbenen, also hatte er damit den Bund
gebrochen und kann uberhaupt nicht nach dem judischen Ritus
begraben werden.« |
Die erste Entkraftung: »Er
stammt aus einer frommen Familie, hatte immer den Wunsch,
nach Israel einzuwandern, hat es nur zeitlich nicht
geschafft. Die Intention geht der Tat voran und mu. im
Sterbefall als angefangene und nur nicht vollendete Tat
betrachtet werden, als ob er unterwegs gestorben ware.« Dies
wurde von den zustandigen Rabbinern auch leicht anerkannt.
|
Die zweite Entkraftung: »Israel
war ein frommer Mensch, der mit seinem ganzem Leben seinen
tiefen Glauben an Gott und seine Gerechtigkeit bewiesen hat.
Er war uberzeugt, da. derjenige, der einen Menschen aus dem
alten Gebein auferstehen lassen kann, ihn auch aus der Asche
auferstehen lassen kann.« Die Rabbiner sagten: »Kann ja,
aber nicht will.« Ich sagte: »Doch, Er will, dessen war mein
seliger Vater sicher. Und da es im Judentum zwischen dem
Menschen und Gott keinen Mittler gibt und keinen geben kann,
so mussen Sie akzeptieren, da. es zwar nicht ublich ist,
aber da. hier wegen einer besonderen Lebensleistung auch
eine Ausnahme moglich sein mu..« |
Diese Entkraftung wurde
nicht angenommen. Das Gegenargument war: Da es hier um eine
Ausnahme gehe, liege die Beweispflicht bei mir. Zwar
glaubten die Entscheidungstrager auch an die Moglichkeit
einer Ausnahme im Prinzip, aber nicht in meinem konkreten
Fall. So wurde das Problem aus der prinzipiellen Ebene des
Glaubensbekenntnisses und der Gotteserkenntnis auf die Ebene
des Glaubenwollens-oder-Nichtwollens beim konkreten
Machtinhaber uberfuhrt. |
Uber die Losung dieses
Problems wollte ich hier zunachst nicht berichten aus
Respekt vor dem menschlichen Irrsinn und weil ich auch
versprochen habe, daruber nicht zu schreiben, falls
das Begrabnis nach aller Form richtig stattfinde. Daruber
nicht zu erzahlen, habe ich aber nicht versprochen. Bei
meinem Besuch in Israel 1997 sagte mir der verehrte Raw
Schimon, da. ich jetzt von meinem Versprechen frei sei, weil
der Oberrabbiner, dem ich mein Versprechen gab, bereits seit
Jahren tot sei. Das Versprechen bindet aber nur fur die Zeit
des Lebens dessen, dem es gegeben worden ist. Deswegen
erzahle ich endlich, wie es war. |
Ich schwor dem
Oberrabbiner, da. ich, wenn mein Vater nicht rechtens
begraben werde, mein Leben lang gegen das wurdelose und
machtsuchtige System der konfessionellen Organisation in
Israel kampfen wurde, und mein Vater wurde mir beistehen.
»Das ist aber eine Erpressung, junger Mann«, sagte der
Oberrabbiner. »Nein«, sagte ich, »das ist mein Glaube.« »O
doch«, widersprach er, »es ist eine Erpressung und sogar
eine erfolgreiche!« |
Ein Jahr spater pflanzte
Ljolja Bimman eine Zypresse an Israels Grab. Sie wuchs
schnell und wurde in funfzehn Jahren sehr schon. In dieser
Zeit hatten wir einige Probleme in unserem Leben: Konflikt
mit der Verwandtschaft, der Kontakt zu den Kindern war
erschwert, das Bankkonto brutal uberschuldet, ich war
arbeitslos und lag im Krankenhaus zur Halfte gelahmt nach
einer Durchblutungsstorung im Gehirn. Da horte ich die
Stimmen: Israel haderte mit Gott um unsere Zukunft. Das
Gesprach wurde immer lauter und gespannter. Israel war schon
sehr zudringlich, Gott wollte seine Ruhe und da. es lauft,
wie es lauft. Dann sagte Israel, da. es so nicht gehen kann
und da. er dann vorzeitig auferstehen werde, um uns selber
zu helfen, weil er fur das Wohl seiner Nachkommenschaft
verantwortlich sei. |
»Hast du dich zu deiner
Lebzeit darum gekummert«, fragte Gott. »So gut ich konnte«,
antwortete Israel, und es war auch so. »Dann mu. es auch
jetzt reichen«, sagte Gott. »Jetzt aber bist du dran, weil
die Lage zu kritisch geworden ist«, forderte ihn Israel
heraus. »Bleib, wo du bist, die Lage ist immer kritisch!«
»Nein, das ist meine Familie!« »Bleib, wo du bist!«
|
schrie Gott so laut in die
Leitung, da. sie anfing zu brennen; das Grab baumte sich auf
und fiel dann aber zuruck. |
Uns ging es danach deutlich
besser. Ich wurde geheilt und fand die Arbeit, die mir
zusagte. Die finanzielle Last hatte sich soweit erleichtert,
da. wir im nachsten Jahr mit den Kindern zusammen nach
Israel fahren konnten, um Vaters Grab zu besuchen. Die
Zypresse war vollig abgebrannt von einem Blitz, die
Grabplatte gesprungen, das ganze Grab verschoben. Das Grab
haben wir repariert, aber die abgebrannte Zypresse zur
Erinnerung stehengelassen. |
»Siehst du jetzt, da. es
nur der Lebensproze. ist, mit dem Gott selbst, die
Gotteserkenntnis und auch ihre Grenzen erforscht werden
konnen?«, fragte Makari. »Erforscht ja«, antwortete
Schlomo-Chaim, »aber verstanden! Womit willst du alles das
verstanden haben? Mit dem Lebensproze.? Nein. Dazu
brauchst du ein speziell konstruiertes geistiges Werkzeug,
ein Aussagesystem, das jeweils in seiner Zeit und in seinem
Zeitgeist das maximale Verstehen zula.t. In der mediterranen
Antike war es die Thora. In irgendeiner Zukunft kann es eine
Natur- und Geisteswissenschaften integrierende
Universalethik werden.« »Mit solchen Ansichten verla.t du
das Judentum, du Ketzer«, regte sich der Richter auf, »du
willst die Thora erweitern.« »Nicht im geringsten«,
verteidigte Israel seinen Vater, »die Thora beinhaltet
alles, vieles aber in der intentionalen Form, als eine
Absicht. In sechs Tagen schuf Gott Himmel und Erde und alles
andere nicht als fertige Gegenstande oder einzelne Wesen,
sondern als Seinsformen. Er entwickelt es weiter, jetzt mit
den Menschen zusammen.« Genrich mischte seine Stimme ins
Gesprach: »Da hat Schlomo recht. Ein richtiges Aussagesystem
ist immer eine Geschichte. Sie zeigt uns nicht blo., was und
wie es war. Nein, die Geschichte lehrt uns, was fur einen
Sinn es hat, was war und wie es war.« »Eben das sage ich ja
auch«, fuhr Schlomo-Chaim fort, oder war es Nehamiahs Stimme
oder vielleicht deine, lieber Freund: »Gott will erkannt und
verstanden werden. Nur dann konnen die Bundespartner den
Bund richtig pflegen und sich gegenseitig heiligen. Nur dann
konnen die Menschen auch verschiedener Religionen sich in
Wurde verstandigen. Nur dann wird das Sein sich andern, und
die Toten werden im neuen Sein auferstehen, um ihre
Vergangenheit zu verantworten, und die Gerechten unter ihnen
werden an der Zukunft im neuen Sein teilhaben, weil nur sie
fur die neue Zukunft verantwortungsfahig sind.«
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So war Boris Borissow,
Professor Israel Schapiro aus Borissow in Beloru.land, der
Gerechte, der Zaddik, der Gotteskrieger, der Herausforderer
Gottes, Isra-El. |
Das Leben eines jeden von
uns ist ein Wortchen in einem langen Gesprach. Nicht immer
wei. ein Wort, warum es im Satz steht, nicht immer wei. ein
Mensch, wozu er lebt. Aber der richtige Zusammenhang der
Worte gibt dem Satz einen Sinn, und der Zusammenhalt der
Menschen in einer gemeinsamen Geschichte gibt uns die
Chance, den Sinn unseres Lebens zu begreifen und
verantwortungsvoll zu gestalten. |
Veroffentlicht in: Merkur,
Nr. 2 (610), 2000 |
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