Борис Шапиро

Становление художника

Почему мне не нравится памятник жертвам холокоста в Берлине?

Europa und Russland.  Kann man ihre Gesellschaftssysteme vergleichen?

Der weg hinaus

Корабль и ковчег

Строчка из песни

Die Stimmen

Autobiographische skizze

Ein tropfen wort

Anhang

Mit dem mund

Если рано скажешь

Wer lebt verkehrt

Glaubensbedarf moderner Juden

Metarepresentations and Paradigms, Ur-version

WTK - Wissenschaft - Technologie - Kultur e. V. WTK

Experience in Technology Transfer from the CIS Countries to Germany

   
 

биография

 

Die Stimmen

Biographische Erzahlung

 

Podporutschiki sche ...

 Juri Tynjanow

   KOHANIM   

Lieber Nachkomme, lieber Verwandter, lieber Freund und damit auch geistig Verwandter! Ich wunsche dir viel Gesundheit und da. der gute Geist dich niemals verla.t, da. du besonnen und bedacht handelst und da. du an Freude, Faszination und Eigenverantwortung immer teil hast. Und noch wunsche ich dir, da. Gottes Segen dich auf allen Lebenswegen schutzt und dir in allen Lebenslagen hilft. Dieser Segen ist dein wichtigstes Erbteil an der langen und nicht leichten Geschichte unserer Familie:

   Es segne dich der Ewige und behute dich!

 Es lasse der Ewige Sein Angesicht dir zuleuchten

 und sei dir gnadig!

 Es wende der Ewige Sein Antlitz dir zu

 und gebe dir Frieden!

  Nicht ich oder sonst jemand ist die Quelle dieser Worte. Gott allein ist Urquell des Segens, ich bin nur ein Uberbringer.

  Die Geschichte, die ich erzahlen will, wenn auch noch so verkurzt, ist lang und wurdevoll, tragisch und erhaben wie ubrigens die Gesamtgeschichte der Menschen und insbesondere der Juden. Ich glaube, es gibt heute kaum einen Adligen, der sich nach der Lange seiner Sippengeschichte mit uns messen konnte. Aber auch wir konnten der zerstorenden Kraft des Zeitlaufs nicht standhalten. »Auch das vergeht« hat unser Vorfahr, der Goldschmied Kalam, auf dem Ring des Konigs Salomo auf dessen Gehei. eingraviert.

 

Nazistische Bomben auf Leningrad haben 1942 riesige Locher in unsere Familiengeschichte geschlagen: In einem Bombenangriff wurde das einmalige Familienarchiv unwiderruflich zerstort, Hunderte von Dokumenten auf Pergament und Papier, Zeugnisse, Notizen, Tagebucher, allerlei Urkunden, Urteile, Gnadengesuche, Eigentumsbescheinigungen, Enteignungsbefehle, Freibriefe, Geburts- und Einburgerungsurkunden, Schenkungs- und Ehrenurkunden, Ehe- und Pachtvertrage, Sterbeurkunden, Begrabnisbescheinigungen, kleine Gegenstande, Familienbilder, Zeichnungen und Portrats aus vielen Landern und allen Zeiten. Mein Gro.vater Schlomo-Chaim systematisierte und katalogisierte diesen gesamten Schatz und verfa.te eine Familienchronik in sieben dicken, gebundenen Heften, in sieben sogenannten Wareneingangs- und -ausgangsbuchern, auf russisch »ambarnaja kniga«.

 

Das alles ist zerstort. Mein Vater Israel hat das noch gesehen und darin gelesen, insbesondere in den Chroniken. Das Wichtigste erzahlte Schlomo-Chaim dem Israel, und Israel erzahlte mir oft und viel. Er wollte auch verschriftlichen, was er noch wu.te, hat es aber nicht geschafft: Das Unwichtige schien oft dringender zu sein. Moglicherweise mache ich denselben Fehler. Versuch du, mein Freund, das Wichtige mit dem Dringenden nicht zu verwechseln, und erledige zuerst das Wichtige, dann das Dringende, falls es sich bis dahin nicht von alleine aufgelost hat.

 

Leider konnte ich nur einen Bruchteil dessen behalten, was mein Vater erzahlte. Aber auch das ware schon zuviel, um es in dieser Erzahlung bewaltigen zu konnen. So versuche ich hier nur einige Personen aufzuzahlen, die in der Reihe unserer Vorfahren stehen. Genaue Geburtsorte und -daten kenne ich nur ab der Generation meiner Eltern.

 

Au.erdem bin ich mir dessen bewu.t, da. mein Wissen nicht nur unvollstandig, sondern auch verwirrt und in manchem unzuverlassig ist. Als ich zum Beispiel einem Historiker, einem Fachmann fur die Geschichte des Buchdrucks in Ru.land erzahlte, da. meine Vorfahren an der Modernisierung des Druckhofs in St. Petersburg beteiligt waren, sagte er gleich, da. es den Druckhof nur in Moskau gegeben habe, in St. Petersburg dagegen die Erste Druckerei der Akademie der Wissenschaften – wo also waren sie tatig gewesen? Ich hatte bis jetzt bedauerlicherweise keine Moglichkeit, Quellenstudien zu betreiben und die Fakten zu prufen. Aus Angst, da. ich es wie mein Vater nicht schaffe, die Geschichte ordentlich darzustellen, erzahle ich, was ich noch wei., als eine Familienuberlieferung, als Sage. Ich bin sicher, da. die Lebensintentionen der Menschen in dieser Geschichte und ihre Schicksale dabei unverfalscht bleiben.

 

Und noch etwas. Ich wei., da. in jeder Geschichte vieles unwahr ist, weil sie eben von Menschen erzahlt wird, und Menschen lugen, manchmal unbewu.t, meistens aber vorsatzlich. Es gibt ubrigens kein Gebot »Du sollst nicht lugen!«. Es gibt ein Gebot: »Du sollst im Gericht nicht falsch aussagen und kein Falschzeugnis ablegen und uber die Unwahrheit nicht schworen!« Eine Geschichte ist aber kein Zeugnis und schon gar nicht vor Gericht. Oder doch?

 

  Ich schwore nicht. Aber mein Vater hat mich einmal bezuglich einer wichtigen Sache angelogen. Als Kind habe ich ihn einst gefragt: »Vater, wer sind wir und von wem stammen wir ab?« Plotzlich wurde er ziemlich verlegen und fragte zuruck: »Was willst du eigentlich wissen?« Mir ging es darum, von welchem der zwolf Stamme Israels wir abstammen.

 

Vater sagte, da. das niemand mehr wisse. Die Stamme Israels hatten sich vollig vermischt, und keiner wisse heute, wer von wem abstamme. Deswegen unterscheide man nur Kohanim, die Nachkommen Aarons, des Hohenpriesters, Leviten, die Nachkommen Levis, und Israel, die Mischung aus allen anderen Stammen. So sei die Abstammung der meisten Juden verlorengegangen. Das ist zwar wahr, aber ich spurte in meinem Innern, da. Vater lugt.

 

Dann bohrte ich naturlich weiter und sagte, da. ich sicher wisse, da. unsere Abstammung nicht verloren gegangen sei. Vater wurde noch verlegener und gab zu, da. wir aus dem Stamm Issachar seien. Ich gab mich zufrieden, und Vater erzahlte erleichtert: »Der erste in unserer Ahnenreihe ist der Goldschmied und Edelsteinschleifer Kalam. Er war ein Lehrling des Meisters Hieram und diente dem Konig Salomo. Er stammte von Issachar ab...«

 

Diese Erzahlung wurmte mich zwei Jahrzehnte lang. Ich wu.te, da. da etwas Wichtiges nicht stimmte. An meinem funfundzwanzigsten Geburtstag stellte ich meinen Vater zur Rede. »Issachar, das war ein Stamm der Krieger«, sagte ich, »Kalam war aber ein Kunsthandwerker, der im Kontext seiner Zeit hochst qualifiziert war. Das konnte damals nicht von ungefahr kommen, sondern nur in der Familie gelernt werden, aber nicht bei Issachar.« »Erstens«, sagte Vater lachelnd und offensichtlich stolz auf mich, »genau deswegen stammt Kalam vom Issachar, weil es ein Stamm der Krieger war. Und zweitens, du hast Recht. Als du noch ein Kind warst, konnte ich es dir nicht erklaren und sagte einfach irgend etwas, um deine Warum-Wurmer zu sattigen.«

 

»Also, wer sind wir, Papa?« »Ich bin der Sohn eines Kohens.«

 

»Dann bist du auch ein Kohen und ich auch.« »Jain. So einfach ist es nicht. Ich habe vieles in meinem Leben getan, was der Kohen nicht tun darf.«

 

»Was denn? Hast du gemordet oder den Gotzen gedient?« »Nein, ich habe nicht gemordet. Aber ich war im Krieg. Ich habe Leichen beruhrt und mich danach nicht rituell gereinigt. Und sowieso fuhre ich seit funfundfunfzig Jahren kein richtig judisches Leben mehr und habe keine Jungfrau geheiratet. Ich a. Schweinefleisch, ich verga. die Brachot und habe sicher das Recht, das Volk zu segnen, verloren. Nein, wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht mehr Kohen nennen.«

 

Der Vater wirkte traurig und erleichtert zugleich. »Was hat das mit mir zu tun?« fragte ich, »ich habe noch keine Leichen beruhrt und eine Jungfrau geheiratet.« »Du? Du bist ein Unwissender. Am schwersten habe ich mich bei Gott damit verschuldet, da. ich dir keine judische Erziehung und Bildung geben konnte. Ich war zu schwach dafur und auch zu unglaubig. Und dem Gotzen habe ich auch gedient, dem sowjetischen. Das verstehe ich jetzt.«

 

»Aber du«, fuhr der Vater fort, »du wei.t so gut wie nichts uber Kohanim und uber das Judentum auch. Wie willst du ein Kohen sein, wenn du mit einer Nichtjudin 1 verheiratet bist, keine Tefillin legst, kein Wort Hebraisch lesen kannst und au.er Schma kein Gebet kennst? Was fur ein Kohen bist du, wenn du nicht betest? Wer fur sich nicht betet, betet nicht fur das Volk. Was verstehst du von der Verantwortung eines Juden und insbesondere eines Kohens? Was verstehst du denn von der Verantwortung?«

  Das Gesprach mit Vater endete damals nicht, nicht an diesem Tag und nicht am nachsten. Baruch Ha-Schem, das Gesprach mit Vater endete uberhaupt nicht. Es anderte sich die Zeit, und seine Tage endeten. Es ist mein Leben, das sich anderte. Mein seliger Vater, der mir ein Leben lang Freund war, ist mein Lehrer geworden.

 

So glaube, lieber Leser, nicht dem, was ich schreibe, glaube dem, was du liest. Nimm dich bitte dieser Geschichte an. Nicht belehren soll sie dich, sondern dir den geistigen Stoff zum Nachdenken und Nachfuhlen geben. Verdauen sollst du sie und Krafte bekommen, deine eigene Geschichte daraus zu machen und sie fortzusetzen. Es wird aber keine leichte Kost sein. Das Leben ist uberhaupt keine leichte Kost.

 1 In meiner ersten Ehe war ich mit einer Nichtjudin verheiratet. Wir haben uns aber nicht deswegen getrennt, und ich bin meiner ersten Ehefrau zutiefst dankbar fur die gemeinsamen Jahre.

 

KALAM UND NEHAMIAH

  

Der erste in unserer Ahnenliste ist der Goldschmied und Edelsteinschleifer Kalam. Er war ein Lehrling des Meisters Hieram und diente dem Konig Salomo. Kalam fertigte viele Gegenstande fur den rituellen und personlichen Gebrauch des Konigs, unter anderem den Ring mit der beruhmten Inschrift. Spater wurde Kalam mit der Leitung des Brautzugs beauftragt, der Prinzessin Nag-Saraj Taj-Jah aus Tanesch in Agypten als Frau des Konigs abgeholt hat. Fur seine treuen Dienste durfte Kalam Schema-Elah, eine Tochter des Konigs, heiraten.

  Eine der fur meinen Vater wichtigsten Personlichkeiten in der fruhen Periode unserer Familiengeschichte war Nehamiah, der Goldschmied und Edelsteinschleifer am Hofe des gro.en Kyros. Verwechsele unseren Vorfahren Nehamiah nicht mit dem in etwa gleicher Zeit wirkenden Statthalter Nehemiah, mit dem wir in keiner direkten Verwandtschaft stehen. Nachdem der gro.e Konig die Juden aus der Gefangenschaft nach Palastina zuruckschickte, um den Tempel wiederaufzubauen, meldete unser Vorfahr Nehamiah aus religiosen Grunden Zweifel an der Richtigkeit des Wiederaufbaus an.

 

Seine Argumente waren gnostisch-heuristisch: Erstens, kein Feind hatte den ersten Tempel zerstoren konnen, wenn der Allmachtige es nicht gewollt hatte. Hatte Er es aber gewollt und die Feinde nur als Mittel zur Ausubung Seines Willens benutzt, dann gilt es, zuerst zu verstehen, was der Allmachtige uns, seinen Bundespartnern, damit sagen wollte. Wohl kaum, da. wir das gerade Zerstorte stur wiederaufbauen sollten. Nehamiah meinte, da. wir, wenn wir die Botschaft nicht verstanden hatten, bewu.t an diesem Verstandnis arbeiten mussen und mit dem Wiederaufbau abwarten. Weiterhin mutma.te Nehamiah, da. die Zerstorung des Tempels ein Zeichen, ein Ansto. zur Weiterentwicklung des Bundes, also zur Religionsreform gewesen sei. Andernfalls sah er gro.e unabwendbare Gefahren fur das judische Volk wegen der unterlassenen Kommunikations- und Verstandigungspflege zwischen den Bundespartnern, was den Bund belaste.

 

Das zweite Argument fur den Zweifel sah Nehamiah darin, da. der Befehl, den Tempel wiederaufzubauen, als Offenbarung des Allmachtigen durch den Mund eines Nichtjuden, sei er auch ein gro.er Konig, gegeben worden sei. Das eigentliche Problem bestand fur Nehamiah darin, da. der gro.e Konig auf diese Weise ein judischer Prophet geworden sei, ohne ein Jude zu werden. Ein blindes Vertrauen auf eine solche Ungereimtheit schien ihm viel zu gefahrlich und suspekt. Sollte der Wiederaufbau des Tempels der im Zerstorungsakt verborgenen wahren Botschaft des Allmachtigen nicht entsprechen, so konnte der letztlich doch feindliche Konig dem judischen Volk mit seinem Befehl einen weiteren, auf Dauer viel gro.eren Schaden bescheren. Nehamiah schlo. nicht aus, da. der gottliche Wille sich im Laufe der Zeit auch andere. Um so mehr bemangelte er das Fehlen einer gepflegten Verstehens- und Verifizierensweise im Dialog mit dem Allmachtigen. Also mu.ten die Weisen der Juden sich vordringlich um die gnostische Arbeit kummern.

 

Mein Urgro.vater Genrich und der Gro.vater Schlomo-Chaim interpretierten den Denkansto. von Nehamiah als einen unzeitgema.en Versuch, die heidnischen Elemente im Judentum in Frage zu stellen. Mein Vater Israel ging weiter und wollte in den Argumenten von Nehamiah die Aufforderung sehen, alles, was Begriffe und Kultus betreffe, durfe ausschlie.lich ideelle und nicht materielle Formen wie zum Beispiel Tempelbau aus Holz oder Stein haben. Nehamiah hatte allerdings keinen Erfolg mit seinen damaligen Ansichten, die fur ihn gewi. auch lebensgefahrlich waren. Nichtsdestotrotz hat er es geschafft, einen gro.en Konflikt zu vermeiden, vielleicht infolge seines gesellschaftlichen Renommees und seines Geldes:

Immerhin hat er den Wiederaufbau einer ganzen Ecke des Jerusalemer Mauerwerks, den Turm und je funfzig Ellen in beiden Richtungen, finanziert.

 

Bemerkenswert ist aber, da. Juden seit dieser Zeit sehr viel leiden mu.ten und da. das Judentum sich nach der Zerstorung des Herodianischen Tempels eben in die Richtung entwickelte, die Nehamiah gerade meinte.

 

 

VOM MITTELALTER BIS INS 20.JAHRHUNDERT

  

Mein Gro.vater Schlomo-Chaim vermerkte, da. es seit dem spaten Mittelalter Meinungsverschiedenheiten uber die Herkunft unseres Namens gab: Die einen Kommentatoren der Familiengeschichte meinen, da. es eine Art Beiname geworden sei, denn Kalam, wie sie sagten, sei ein hebraischer Schuler des aus dem Libanon kommenden Hieram gewesen und hatte als Auftragnehmer am Konigshof gelebt. Sie leiten »Sapira« von Sabra, Sabir, Habir, Hebraer ab. Auch ist Chabirru ein agyptisches Wort fur Viehnomaden.

 

Die anderen leiten »Sapira« von »gut, schon, erhaben, edel« ab, wie es der Name des Edelsteins Saphir besagt, und meinen, da. Kalam mit dem Beinamen eine Art Adelsrecht bekommen habe, was auch damit gut vertraglich sei, da. er danach die Konigstochter heiraten durfte. Dann ware das Wort »Sapira« dem deutschen »Gutmann«, »Edelmann« oder »Hubschmann« ahnlich.

 

Auch heute bedeutet »Sabir« auf arabisch einen hohen Amtstitel an den orientalischen Konigshofen, in turkischen Sprachen hei.t es »Sabur«. Diese Version widerspricht dem Namensbezug von Sabra gar nicht. Es sind auch andere Falle bekannt, wo der Volks- oder Sippenname zum Titel oder zur Funktion wurde. Man denke zum Beispiel an »Schweizer«, auf russisch hei.t es Pfortner, auf italienisch Wachsoldat, Wachtposten. Auf jeden Fall bin ich davon uberzeugt, da. der Beiname von Kalam als Wort schon vorher in Gebrauch war, also seit mindestens 950 Jahren vor der christlichen Zeitrechnung.

 

Die dritten versuchen in Kalams Beinamen eine Wurdigung des Handwerks und die Familiennamensbildung nach dem Namen des Edelsteins beziehungsweise des Edelsteinschleifers als Berufsstand zu sehen.

 

Dieser Gedanke schien Schlomo-Chaim vollig anachronistisch zu sein. Die Namensbildung mit beruflichem Bezug ware nach Schlomo-Chaim nur mit Herausbildung des Burgerbewu.tseins und der Stande moglich, also nicht vor dem Mittelalter. Au.erdem schreibt man den Namen Schapira am Anfang mit dem Buchstaben Schin und das Wort fur den Edelstein mit dem Buchstaben Samech. Zur Zeit der Standebildung war die Schreibweise fur beide Worter langst unveranderlich geworden.

 

Ubrigens erzahlt die Familienlegende, da. Konig Salomo die Schreibweise des Wortes Saphir mit dem Buchstaben Samech eingefuhrt habe, um das edlere Wesen des Steins im Zusammenhang mit Salomos mystischen Erkenntnissen uber die Natur der Zeit und uber die Urschopfung wegen der Schlangensymbolik des Samech gebuhrend auszuzeichnen. Vorher schrieb man Saphir wie unseren Namen mit dem Buchstaben Schin. Davon will ich ein anderes Mal erzahlen, wenn ich die Geschichte des Salomonischen Ringes niederschreiben werde. Und wenn ich es nicht schaffe, sollen meine Kinder Ussiah und Genrich diese Geschichte erzahlen.

 

Zum vierten mochte ich vollstandigkeitshalber noch eine offensichtlich neuzeitliche Version der Namensdeutung »Schapiro« erwahnen, die gar nicht aus unserem Familienkreis stammt und die ich fur ebenso unwahrscheinlich halte, wenn darin die einzige Quelle unseres Namens gesehen wird. Manche Philologen meinen, da. der Name »Schapiro« ausschlie.lich von der Stadt Speyer abstamme, wo eine gro.e judische Gemeinde war. Als dort fast alle erwachsenen Juden wahrend eines Pogroms in der Synagoge lebendig verbrannt wurden, erhielten spater ihre am Leben gebliebenen Kinder den Namen »Schapira« nach der Stadt des

Martyriums ihrer Eltern und weil man angeblich nicht mehr wu.te, welches Kind von welchen Eltern abstammte.

 

Ich meine, da. die Namensbildung »Schapiro« nach der Stadt Speyer nicht unbedingt fur alle Schapiros zutreffen mu.. Laut Uberlieferung waren unsere Vorfahren gar nicht in Speyer, sondern kamen aus Portugal nach Amsterdam und von dort uber Osterreich nach Ru.land, also nicht uber Polen, wie die meisten russischen Juden. In Deutschland bekamen die Juden ihre Nachnamen von den deutschen Behorden, die sich bei weitem nicht immer an judischen Sprachgegebenheiten orientierten. Jedoch kommen nicht unbedingt alle, die den Namen Schapira tragen, aus Deutschland. Den etymologischen Zusammenhang zwischen den Namen Speyer und Schapira in der tiefen Vorgeschichte der Sprachen mochte ich naturlich nicht bestreiten.

 

Selber will ich funftens doch nicht ausschlie.en, da. unsere Familie den heutigen Namen Schapira in Anlehnung an die dritte Variante bekommen haben konnte. Gerade im spaten Mittelalter waren Juden in Portugal aufgefordert, Nachnamen anzunehmen. Als Juweliere und Edelsteinschleifer hatten sie den Namen Schapira im Andenken an Kalam und mit Bezug auf den Begriff des Schonen leicht annehmen konnen.

 

Wie du siehst, mein Lieber, hat Schlomo-Chaim auch die Meinungen in seinem Kommentar festgehalten, die er fur unzulanglich hielt. Das macht seine Arbeit in meinen Augen sehr vertrauenswurdig. Auf jeden Fall ist unsere Geschichte nicht nur eine Aufzahlung von Heldentaten und ruhmvollen Denkwurdigkeiten, sondern auch eine gro.e Ansammlung von Irrtumern.

  Jetzt, lieber Leser, mu. ich vieles, was ich noch wei., uberspringen und mich sehr kurz fassen, sonst werde ich mit dieser Erzahlung gar nicht fertig.

 

Bis ins 17.Jahrhundert hinein waren unsere Vorfahren Goldschmiede und Edelsteinschleifer. Egal, ob sie namhaft wie Kalam im 10.Jahrhundert vor Christus, Nehamiah im 6.Jahrhundert vor Christus, unser getaufter Verwandter Goldschmied Jose Coloumb in Madrid im 16.Jahrhundert, der Verleger und Typograph Mendel-Hendrik in Amsterdam im 17.Jahrhundert, der im 18.Jahrhundert in St.Petersburg verleumdete und verurteilte Jakob oder die armen Bauern und Zimmerleute im Wei.ru.land des 19.Jahrhunderts waren, sie waren immer religios, sehr flei.ig und pflegten eifrig die Familiengeschichte. Bitte nimm dich dieser Geschichte an, pflege sie und fuhre sie weiter fort.

 

Alle diese Leute, deren Namen wir noch wissen, und die, deren Namen uns geraubt worden sind, leben in dir, in deinem Inneren, zusammen mit ihrer Erfahrung, ihrer Liebe und Gute. Wenn du es wei.t, dann kommen sie zu dir in deiner schweren Stunde zum Helfen und in deiner Freudenstunde, um sich zu freuen und mit dir zusammen zu feiern. Aber du sollst es lernen, mit ihnen und damit auch mit mir im Gesprach zu bleiben und dieses Gesprach nicht zu scheuen. Keiner wunscht dir so viel Gutes und keiner ist so hilfsbereit, wie dieses Volk, das in dir und durch dich weiterlebt. Auch ist keiner so wie sie in der Lage, dich im Verborgenen – egal, ob im Guten oder im Schlechten – zu verstehen, denn alle deine Probleme haben sie schon in der einen oder anderen Form gehabt und immer eine wurdige Losung gefunden, eben auch mit Hilfe ihrer Vorfahren.

 

Mendel-Hendrik Schapira in Amsterdam war der erste in der Familie, der das Juwelenhandwerk aufgab. Er grundete eine Druckerei und verlegte unter anderem zwei Traktate von Baruch Spinoza. Das brachte ihm solche Schwierigkeiten mit der judischen

Gemeinde in Amsterdam ein, da. er mit seiner Familie die Stadt verlassen mu.te. Wir sind im Besitz des Portrats von Mendel-Hendrik Schapira, das gewi. nur mit sehr gro.en Schwierigkeiten uber all die Zeiten und Grenzen gerettet werden konnte. Ich kann mir gut vorstellen, wie gro. die Freude in der Familie war, als sie noch im rechten Augenblick eine Einladung nach Salzburg bekam, um dort die erzbischofliche Druckerei zu modernisieren. Nach einigen Jahren reichlich belohnt fur ihre gute Arbeit, bekamen die Schapiras den Auftrag, den Druckhof der Zarin Katharina der Gro.en in St.Petersburg zu reorganisieren und zu modernisieren.

 

Als der Auftrag in St.Petersburg erfullt worden war, wurden die Familienoberhaupter Jakob, unser direkter Vorfahr, und sein Bruder – auf die Schnelle zweifle ich plotzlich, ob er Josef oder Benjamin hie. –, statt ihren Lohn zu bekommen, verleumderisch eines Mordes und der Spionage fur Preu.en beschuldigt. Der ganzen Offentlichkeit in Ru.land war damals klar, da. der Proze. verleumderisch-antisemitisch und da. die Schuld unserer Vorfahren weder an diesem Mord noch an der Spionage jemals nachgewiesen worden war. Trotzdem wurden die Bruder Schapira verurteilt, offentlich ausgepeitscht, entehrt und enteignet und zusammen mit ihren Familien nach Sibirien verbannt.

 

Der in Sibirien geborene Genrich (1783–1896) mit dem Beinamen Dobry (auf russisch: der Gutige) bekam vom Zaren Paul I., dem Sohn Katharinas der Gro.en, die Erlaubnis, in ein Siedlungsgebiet nach Wei.ru.land zu ziehen. Bei der Ausstellung der Ruckkehrerlaubnis hat ein Schreiber der Zarenkanzlei unseren Familiennamen Schapiro anstelle von Schapira geschrieben. Das zu andern war fur die damals mittellose Familie nicht moglich.

 

In Wei.ru.land pachtete die Familie den Boden beim Gutsbesitzer Korsakow und verdiente ihr Brot als Bauern und Zimmerleute. Dort wurde im Dorf Korsakowitschi unweit von Sembin bei der Stadt Borissow im Minsker Gouvernement Schlomo-Chaim (1850–1938) als jungster Sohn des Genrich geboren. Ebenda wurde sein Sohn, mein Vater Israel am 1.Mai 1901 geboren. Er starb in Moskau am 6. Marz 1976 und wurde von mir zusammen mit Lew Bimman in Jerusalem auf dem Friedhof »Givat Shaul« begraben. Das Grab von Schlomo-Chaim befindet sich auf dem alten judischen Friedhof in St.Petersburg. Ich wurde am 21.April 1944 in Moskau geboren.

 

 

GENRICH

  

Da. der Beiname Dobry den Urgro.vater Genrich schmuckte, hatte Grunde. Mein Vater Israel erzahlte mir unter anderem viele kleine Geschichten und Anekdoten aus dem bauerlichen Leben der Schapiros in Korsakowitschi. In einer davon wird berichtet, da. eines Tages ein aus dem Stall ausgerissener Bulle auf der Dorfstra.e wutete; er zerstorte Zaune, stie. Mensch und Vieh. Genrich, der zur Stunde gerade betete, kam aus seinem Blockhaus heraus und redete dem Bullen ruhig zu. Und dann bedeckte er ihm den Kopf samt Hornern mit seinem Talles. Der Bulle beruhigte sich und lie. sich wieder anbinden.

 

Genrich war ein sehr flei.iger und dadurch erfolgreicher Bauer und Zimmerer. Er hatte viele Kinder, von welchen achtzehn am Leben blieben und erwachsen wurden. Da mu. ich mit Staunen und Bewunderung an seine kleinwuchsige Frau Rachel und ihr Lebenswerk denken.

 

Als Genrich funfzig Jahre alt wurde, brauchte er nicht mehr auf dem Felde oder beim Hauserbau zu arbeiten, weil seine erwachsenen Kinder auch ohne ihn die ganze gro.e Familie versorgen konnten. Genrich, der vorher nur den Cheder besucht hatte, fing an, sich intensiv weiterzubilden. So wurde er mit sechzig Absolvent der Talmud-Thora-Schule in Borissow und beschaftigte sich weiter mit dem Thoraschreiben und eben mit dem Studium der Thora und des Talmuds. Er hatte schon einige Thora-Rollen geschrieben, als er mit siebzig zur Auffassung kam, da. man, um Gottes Werk zu erlernen, sich nicht nur mit den religiosen und historischen Texten, sondern unbedingt auch mit den Naturwissenschaften beschaftigen mu.. So lernte er intensiv und beharrlich als Autodidakt und nahm Nachhilfestunden.

 

Mit siebenundsiebzig Jahren bestand Genrich im externen Verfahren die Abiturprufung am Gymnasium in Minsk und wollte an Seiner Kaiserlichen Majestat St.Petersburger Universitat studieren. Er dachte, sein Alter wurde ihm Probleme bei der Immatrikulation machen, aber er irrte sich. Er durfte nicht studieren, weil er Jude war. Juden durften in Ru.land vor 1863 grundsatzlich nicht an den Hochschulen studieren und danach nur als Ausnahme und bei weitem nicht an allen Hochschulen.

 

Nach dreijahrigem Bemuhen bekam der inzwischen achtzigjahrige Genrich die Erlaubnis, die gerade frisch gegrundete Hochschule fur Bergwesen zu St.Petersburg zwar nicht als Student, jedoch als freier Zuhorer zu besuchen. 1870 bekam Genrich wieder im externen Verfahren seinen Magistertitel als Mineraloge. Drei Jahre spater fuhrte er die erste Akademische Mineralogische Expedition Ru.lands in den Ural mit der Aufgabe, einen vollstandigen mineralogischen Atlas des Urals zu erstellen. Diese Aufgabe wurde 1883 zum hundertjahrigen Geburtstag von Genrich Schapiro mit Erfolg beendet. Bis zu meiner Ausreise nach Deutschland hatten wir noch als Erinnerungsstuck von Genrich die kleine Demonstrationsvariante des Mineralogischen Atlasses des Urals zusammen mit Genrichs eigenhandiger Beschreibung der Mineralien aus dem Jahr 1883. Da ich keine Ausfuhrerlaubnis fur diese alte Mineraliensammlung von den Sowjetbehorden bekam, uberlie. ich die Sammlung meinem Freund Dr. Juri Frejdin zur freien Verwendung nach seinem Verstandnis.

 

Genrich war von bewundernswerter Gesundheit. Er fuhrte ein sehr bewegtes Leben, badete im Winter wie im Sommer in freien Gewassern und bis zu seinem letzten Tag unterlie. er seine Thorastudien nicht. Als er hundert Jahre alt wurde und seine Manneskraft noch nicht verloren und die eigenen Zahne im Munde hatte, war er zu dem Schlu. gekommen, da. Gott ihn fur sein frommes Leben mit der Unsterblichkeit beschenkte. So wollte er dann eine neue mineralogische Expedition zum Baikalsee fuhren. Dies war aber nicht mehr moglich, jedoch

fuhr Genrich als Konsultant dorthin mit. Expeditionsleiter wurde der spater beruhmte Obrutschew, mit dem Genrich kollegial befreundet war. Der sehr personliche Brief von Obrutschew, in dem er die Familie uber den Tod von Genrich unterrichtete, ist wie vieles andere aus dem Familienarchiv im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Bomben zerstort worden. Genrich ertrank, als er im Baikalsee badete. Man konnte seinen Korper im kristallklaren Wasser noch sehen, aber wegen der zu gro.en Tiefe nicht bergen. Genrich Schapiro starb 1896 im Alter von einhundertdreizehn Jahren. Das liebevolle Portrat von Genrich, das du kennst, hat der Maler Galkin gemalt.

 

MAKARI

  Einer der Sohne Genrichs hie. Joine. Er ist kein Vorfahr, aber ein Verwandter von uns, und ich fuhle mich verpflichtet, sein Leben mit wenigen Worten zu wurdigen. Er verschwand spurlos im Alter von acht Jahren, kam einfach von einem Spaziergang nicht zuruck. Viel spater hat man etwas uber sein Schicksal erfahren.

 

In dieser Zeit hatte Ru.land eine Berufsarmee. Der Militardienst fur Soldaten dauerte funfundzwanzig Jahre, gezahlt wurde ab Ende der Ausbildung. Wahrend der Ausbildung hie.en die Einberufenen nicht Soldaten, sondern Rekruten. Einberufen wurde im Alter von neunzehn Jahren unter den sogenannten Vollburgern, zu welchen die nationalen und religiosen Minderheiten nicht zahlten, nur russische Bauern und Kleinburger christlichen Glaubens. Also wurden zum Beispiel Zigeuner oder Juden grundsatzlich nicht einberufen.

 

Der russische Soldat war damals das rechtloseste Wesen auf der Welt, und das Soldatenleben war grausam nicht nur im Krieg, sondern auch im friedlichen Alltag. Es galt die Ansicht, je grundlicher Soldaten im Frieden gequalt wurden, desto leichter wurden sie in der Schlacht fur den Zaren und furs russisch-orthodoxe Vaterland sterben wollen. Um eine solche Identitat dem jungen Rekruten anzuerziehen, wurde in den Kasernen au.er ohnehin grausamen Erziehungsubungen eine ganze Reihe verschiedener Unterwerfungs- und Demutigungsriten und -kulte mit korperlichen und seelischen Torturen unter den Soldaten selbst gepflegt und ausgeubt. »Soldatenleben ist ein verlorenes Leben«, wurde sprichwortlich gesagt. Militardienst in Ru.land war gefurchtet.

 

Da die Einberufung nach Quoten und nicht nach personlicher Pflicht durchgefuhrt wurde, war es bei den Reicheren ublich, an Stelle eigener Sohne die gekauften Sohne armer Eltern zu stellen. Es gab aber nicht genug Arme im armen Ru.land, um den Bedarf an Ersatzrekruten zu stillen. So ergab sich eine vom russischen Staat nicht nur geduldete, sondern geradezu geforderte Praxis: Kantonisten-Schulen.

 

Die Institution der Kantonisten-Schulen funktionierte folgenderma.en. Ein spezieller Fangtrupp, die Chapper, veranstaltete eine regelrechte Jagd auf Kinder der nationalen oder religiosen Minderheiten, meistens auf judische Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren. Der Fangtrupp bemuhte sich, die Kinder so zu fangen, da. es dabei keine Zeugen gab, also beim Spaziergang au.erhalb der Dorfer oder vereinzelt auf dem Schulweg. Nur in Ausnahmefallen wurden die Kinder aus den Familien gewaltsam geraubt, am haufigsten wahrend der Pogrome. Die Kinder in judischen Siedlungen bekamen Ausgehverbot, wenn das Gerucht kreiste, da. ein Fangtruppverdachtiger in der Nahe gesehen wurde. Die gefangenen Kinder, die Kantonisten, wurden in einem Internat meistens bei einem Kloster oder innerhalb einer Kaserne versammelt, getauft und als zukunftige Rekruten erzogen. Die Wehrpflichtigen konnten sich bei den Kantonisten-Schulen freikaufen. Sie deckten dabei die Fang-, Verpflegungs- und Erziehungskosten, und ein Kantonist ging zum Militardienst an Stelle des Kaufers.

 

Da. es dabei keine Rechtsaufsicht und keine Berufungsmoglichkeit gab, ist so gut wie selbstverstandlich. Bei geburtsarmeren Jahrgangen kaufte selbst der Staat Rekruten aus den Kantonisten-Schulen, ohne darauf zu achten, ob sie das Einberufungsalter erreicht hatten oder nicht. Die Sterblichkeit unter den Kantonisten war sehr hoch.

 

Die Praxis der Kantonisten-Schulen wurde gerechtfertigt durch das deklarierte Recht eines jeden Nichtchristen, seinen Weg in den Scho. der russisch-orthodoxen Kirche und damit in

das Heil unter dem Schutz des russischen Volks zu finden. Die Kantonisten wurden gezwungen, eine entsprechende Erklarung zu unterschreiben. Das reichte, um jeden Rechtsanspruch der nicht uber das volle Burgerrecht verfugenden nationalen oder religiosen Minderheiten abzuwehren. Also, es ist dir schon langst klar geworden, da. Joine gefangen und zum Kantonisten gemacht worden war.

  Ich vermag nicht, die Qualen, insbesondere die seelischen, zu beschreiben, denen Joine in diesen Jahren ausgesetzt wurde. Daruber erzahlte er spater seinem Bruder Schlomo-Chaim. Und doch fand sich ein Mensch in seiner Nahe, der in dem kleinen Jungen eine gro.e Seele und eine angeborene Vernunft entdeckte und ihn unbedingt vor dem Militardienst retten wollte. Das war sein Religionslehrer Vater Arseni seligen Angedenkens. Es gab nur eine Moglichkeit, dem Militardienst als Kantonist zu entgehen. Das war – die Flucht nach vorne, wurde meine Frau Hella sagen – die Karriere als Monch. Als Monch erhielt Joine den Namen Makari. Vernunftig und flei.ig, fand er sich bald gut zurecht in der kirchlichen Hierarchie und machte eine bemerkenswerte Karriere. In den achtziger Jahren wurde er Bischof des Nowgoroder Kirchenbezirks. Sein Ruhm als milder, beratender und helfender Kirchenvater fuhrte Pilger aus ganz Ru.land zu ihm.

 

Eines Tages blieb vor dem Tore des Schapiroschen Hauses in Borissow ein solider Wagen mit Vierergespann stehen. Ein Monch stieg ab, offnete die hintere Tur, klappte die Steigstufe aus und half einem anderen aus dem Gefahrt. Dieser anderer, Seine Eminenz, der Nowgoroder Bischof Makari, kniete vor dem Tore und ku.te die Erde. Als er aufstand und eintreten wollte, rugte ihn grobschlachtig ein Bauer mit einem ihm verbluffend ahnlichem Gesicht: »Haut ab, ihr Schweinefresser, hier ist ein judisches Haus!« »Bruder, ich bin Joine«, sagte Makari. Aber sein Bruder, der dumme Jizchak, eines von den achtzehn Kindern Genrichs, konnte sich in diesem Augenblick nach uber drei.ig Jahren an keinen Joine erinnern. Der judisch-orthodoxe Kleinmut versperrte sein Menschenherz beim Anblick des russisch-orthodoxen Monchs. Jizchak rief einen anderen Bruder und zwei Neffen zu Hilfe, und sie verjagten den weinenden Makari, ohne ihn uberhaupt anhoren zu wollen.

 

Ich glaube, dies war der schlimmste Tag im ganzen Leben Makaris, und ich schame mich fur meine Gro.onkel jetzt wie beim ersten Mal, als ich diese Geschichte von meinem Vater horte. Der einhunderteinjahrige Genrich und seine Frau Rachel waren an dem Tag in ihrem Haus in Korsakowitschi, sie begriffen sofort, wer der Monch war, der ins Haus wollte. Fast vierzig Jahre lang hatte Genrich fur die Errettung Joines gebetet, und er war sicher, da. sein Gebet gehort wurde. Genrich schrieb einen Brief an Joine, aber es verging noch ein Jahr, bis es den Schapiros gelang herauszubekommen, wer der Monch war und wo man ihn finden konnte.  

Makari verzieh seinen Brudern. Er besuchte noch einmal sein Geburtshaus und empfing vom Vater einen Segen. Als es der Familie bald nach Genrichs Tod wegen der neuen Enteignungen und des Verlustes der Pacht finanziell sehr schlecht ging, half Makari ihnen aus seinen Privatmitteln zwei oder drei Mal. Bis zu seinem Tod wechselte er Briefe mit seinem jungeren Bruder Schlomo-Chaim, der in ihm vielleicht den einzigen Vertrauten au.er seinem Vater Genrich fand.

  

 

SCHLOMO-CHAIM UND HANNAH

  

Schlomo-Chaim war das jungste Kind von den am Leben gebliebenen und galt als das begabteste. So wurde er fur ein hoheres Studium bestimmt, um Rabbiner zu werden. Nach der Borissower Talmud-Thora-Schule fuhr er nach Lemberg und studierte in der dortigen Jeschiwa. Dabei lernte er einige Kabbalisten kennen, durch welche er mit der scholastisch-theologischen Problematik der Wahrheitsfindung vertraut wurde, und fing an, sich besonders fur das Methodische zu interessieren. Die Lehren von drei gro.en Denkern, deren Werke er in Lemberg wahrnahm, gaben ihm den entscheidenden Impuls: die Lehre uber die universelle Richtbarkeit des Londoner Rabbiners und Mathematikprofessors Isaac Nikolai Barrow, uber die Koordinatenmethode von Descartes und die Mathematischen Grundlagen von Isaac Newton. Wegen dieser Werke erlernte Schlomo-Chaim Latein und riskierte Spannungen im Verhaltnis zu seinen Lehrern in der Jeschiwe. Nach Studienende bekam er keine Zulassung zu den rabbinischen Prufungen.

 

Mittellos und verrufen ging Schlomo-Chaim nach Dorpat, wo er sich mit Nachhilfestunden in Hebraisch, Gelegenheitsjobs und mildtatiger Hilfe einiger besser situierter Freunde uber Wasser hielt. Seine schlimmsten Probleme in dieser Zeit waren Hunger, Kalte und da. er anstandige Kleider haben mu.te, um in der Dorpater Offentlichkeit auftreten zu konnen: Im Zentrum seines Lebens stand die Dorpater Universitat.

 

Als freier Zuhorer besuchte Schlomo-Chaim Vorlesungen in Naturphilosophie, alterer und neuerer Geschichte, Mechanik, Logik und schwerpunktma.ig in Mathematik und Mathematikgeschichte. Die Mathematik war es, die zunehmend alles andere bis auf ekstatisch religiose Lyrik in hebraischer Sprache aus seinem Leben verdrangte. In der Mathematik sah der wortkarge, stark introvertierte Sohn Genrichs den Schlussel zum Begreifen des Gotteswerks und Gottes selbst. Er war uberzeugt, da. der Bund beide Seiten – Gott und den Menschen – zum gegenseitigen Erforschen verpflichte. Wohl dachte er, da. Gott fur den Menschen nicht bis in alle Tiefen und Details begreiflich sein konnte. Dennoch machte er sich die Erforschung der prinzipiellen Grenzen der Begreifbarkeit Gottes zur Lebensaufgabe.

 

Disziplin, Arbeitsbesessenheit und die Lebensfuhrung eines orthodoxen Juden reichten nicht aus, um Schlomo-Chaim eine Existenz auf der Basis seiner Lebensaufgabe in Dorpat zu ermoglichen. Um nicht zu verhungern und seiner Arbeit die angemessene Zeit widmen zu konnen, war er gezwungen, doch nach Borissow zuruckzukehren.

 

Unterwegs besuchte Schlomo-Chaim seinen neu gefundenen Bruder Makari in Nowgorod, von dem er aus einem Brief seines Vaters erfahren hatte. Sie lernten sich kennen und wurden Freunde und Diskussionspartner. Die Unterschiede ihrer religiosen Auffassungen blieben Teil ihrer Privatsphare. Die gemeinsame geistige Intention war offensichtlich der Motor in ihrer Beziehung. Sie beide waren Gnostiker, jedoch verschiedener Art. Makari meinte, da. die Erforschung der prinzipiellen Grenzen der Begreifbarkeit Gottes nichts anderes als der Lebensproze. an sich sei und damit eine rein empirische Angelegenheit. Schlomo-Chaim baute auf die formalisierte Ratio, die als eine Invariante des Seins in sich die immanenten Grenzen des Erkenntnisprozesses explizit per constructionem aufweisen mu.te. Eine solche Ratio versuchte er in seinen mathematischen Ubungen als formales Aussagesystem zu konstruieren.

 

Makari argumentierte, da. Schlomo-Chaim den konstruktiven Weg gerade mit seinem Leben verwirklichen wolle, also empirisch. Schlomo-Chaim berief sich darauf, da. das Argument von Makari eben als eine Aussage in einem zwar nichtformalisierten, aber formalisierbaren

Aussagesystem erbracht worden sei. Da. dieses Aussagesystem unbedingt formalisierbar sei, sei notwendig, damit zwei so verschiedene Betrachter wie Makari und er selbst beide sicher sein konnten, da. sie einander tatsachlich verstehen, auch wenn sie miteinander nicht einverstanden seien. Und so weiter ... 

  In Borissow fand das Treiben von Schlomo-Chaim kein Verstandnis und auch keine Zustimmung bei seiner Gro.familie. Der chemisch-petrologisch gebildete Genrich verstand zwar die Ausfuhrungen von Schlomo-Chaim nicht, aber er vertraute als einziger in der Familie auf die Richtigkeit seines Tuns und unterstutzte seinen Sohn auch finanziell. Zwar dachte Genrich in dieser Zeit, da. er unsterblich geworden sei, jedoch trug er seinen bodenstandigen Sohnen auf, im Falle seines Todes Schlomo-Chaim und dessen zukunftige Familie in Gottes Namen gut zu versorgen. Genrich bestand darauf, da. Schlomo-Chaim heiraten und Kinder haben solle. Ich mu. ihm dafur in besonderem Ma.e dankbar sein.

 

Im selben Jahr brannte die alte Borissower Synagoge. Wahrend die anderen nach Wasser schrien und auf die Feuerwehr warteten, rannte Schlomo-Chaim durch das Feuer in den Gebetssaal, ri. den Schrein auf und brachte zwei Thora-Rollen heraus. Als er die weiteren holen wollte, brach die Decke im Eingangsflur zusammen. Eine dieser von Genrich geschriebenen Thora-Rollen befindet sich restauriert in unserem Besitz. Dafur mochte ich an dieser Stelle denjenigen Freunden danken, die spater zum Uberleben dieser Rolle beigetragen haben, das sind Pawel Kusnezow, Sergej Dunin und in besonderem Ma.e Wolfgang Kasack. Im Jungsten Gericht gilt die Errettung einer Thora-Rolle als Errettung eines Menschenlebens.

 

Schlomo-Chaim heiratete Hannah Bassein in Borissow. Unser Ljolja, Lew Bimman, der mit der Dirigentin Kamilla Kolchinsky verheiratet zur Zeit in Kalifornien lebt, ist Sohn von Rachel Bimman, geborene Bassein, der Schwester meiner Gro.mutter Hannah Schapiro. Schlomo-Chaim und Hannah lie.en sich im alten Schapirohaus in Korsakowitschi nieder.

 

Hannah schmi. den Haushalt, den Gemusegarten, versorgte die Tiere. Schlomo-Chaim half ihr nur wenig. Seine ganze Zeit und alle Krafte widmete er seinem »formalen, nicht trivialen Aussagesystem», das die “immanenten Grenzen des Erkenntnisprozesses in sich explizit aufweisen« sollte. Hannah verstand nichts von seiner Arbeit, und trotzdem war sie sicher, da. gerade ihr Mann das Allerwichtigste machte, was mit dem Glauben generell und insbesondere mit der Verantwortungsfahigkeit des Menschen fur sein Tun im Zusammenhang stehe. Dieser Glaube Hannahs an ihn spornte Schlomo-Chaim in seiner Arbeit zusatzlich so stark an, da. er aus Angst, den Erwartungen seiner Frau nicht genug zu entsprechen, sich manchmal bis zur Besinnungslosigkeit ausbeutete. Jedoch verstand er die Erwartungen seiner Frau vollkommen falsch: Hannah versuchte stets, seine Askese einzugrenzen und in einen gesunderen Arbeitsrhythmus zu verwandeln, aber Schlomo-Chaim war schwer zu beeinflussen.

 

Es fand sich aber eine naturliche Weise, etwas Entspannung in die schwierige Verstehensarbeit von Schlomo-Chaim und auch einen neuen Fortschritt in sein Leben zu bringen: Am 1.Mai 1901 wurde sein altester Sohn Israel geboren.

 

Schlomo-Chaim entdeckte sich schnell als Vater und half Hannah mit Freude und Geduld. Die »immanenten Grenzen des Erkenntnisprozesses« waren immer noch undurchschaubar, schienen aber nicht mehr so hart zu sein wie vorher. Es kam ihm vor, als ob der kleine Israel sie mit seinen Handchen spielend knetete und fetzte.

 

Eins nach dem anderen brachte Hannah weitere Kinder in die Welt: Ita (Tussja), Eugenia (Genja), Rosa, Matwej (Motja), und Isaak; mit Israel insgesamt sechs. Von Israel komme ich

(Baruch), Ita bekam Michael, Eugenia hat zwei Kinder: Raphael und Anna, Rosa blieb kinderlos, Matwej bekam Inna, Isaak bekam zwei Tochter: Vera und Natalja. Alle Kinder dieser Generation sind noch am Leben und viele haben auch Kinder und Enkelkinder.

  Kurz nach Israels Geburt ging es in Korsakowitschi nicht mehr weiter. Der Gutsbesitzer Korsakow kam wegen Kartenspielschulden vor Gericht und wurde teilenteignet. Folglich verloren Schapiros ihr Pachtland und mu.ten nach Borissow umziehen.

 

Der Erste Weltkrieg rollte an der Familie Schapiro so gut wie vorbei. Das wichtigste mir bekannte Ereignis aus dieser Zeit: Schlomo-Chaim fand den Beweis in dem von ihm konstruierten Aussagesystem dafur, da. es in diesem System unentscheidbare Aussagen gibt und da. es in jedem Aussagesystem unentscheidbare (unbeweisbare) Aussagen geben mu.. 2 Das war eine mathematisch korrekt formulierte explizite Erkenntnis der prinzipiellen Grenzen des Erkenntnisprozesses in sich. 1916 siedelt seine Familie nach Petrograd um, damit Schlomo-Chaim Kontakt mit den akademischen Mathematikern und Logikern der russischen Hauptstadt aufnehmen konnte.

 

In Petrograd besuchte der inzwischen sechsundsechzigjahrige Schlomo-Chaim regelma.ig das mathematische Seminar an der Universitat, hielt Vortrage dort und in den Sitzungen der Akademie der Wissenschaften. Er wurde von Kollegen als gebildeter und verstandiger Gesprachspartner geschatzt, aber seine eigene Forschung fand keine Resonanz. Die akademische Zeitschrift Mathematische Nachrichten in Petrograd lehnte seinen Artikel ab. Begrundung: Seine Ausfuhrungen hatten weder mit der mathematischen noch mit sonst irgendeiner Realitat, sondern nur mit religioser Mystik zu tun.

  Sein Sohn Israel war in dieser Zeit kaum noch religios. Der Wind der Revolution wehte in seinem Kopf. Er kummerte sich aber um die Familie und arbeitete mit leichtem Herzen, um seine jungeren Geschwister zu ernahren. Er war ihnen auch wie ein kleiner Vater. Fur Schlomo-Chaim mit seinem streng religiosen Leben, seinen mathematischen Ubungen und religiosen Gedichten in hebraischer Sprache hatte er kein Verstandnis, aber er ehrte seinen Vater und hatte vor ihm uneingeschrankten Respekt. Gro. und kraftig, war Israel seinem Gro.vater Genrich ahnlich und genau wie er ausgeglichen und uberlegt.

 

Im Sommer 1918 kam eines Tages Israel zu seinem Vater, der sich gerade mit dem Thora-Studium beschaftigte, und bat ihn um seinen Segen. Israel erklarte, da. er mit der Roten Armee in den Burgerkrieg ziehen wolle, um die Juden vor dem wei.en Terror zu schutzen und um fur das Allmenschheitsgluck zu kampfen. Schlomo-Chaim verweigerte ihm den Segen. Er sagte: »Die gebildete und kultivierte Wei.e Armee begeht unglaubliche Verbrechen im Namen der Gerechtigkeit. Die ungebildete, aus dem Gesindel zusammengerottete Rote Armee wird fur das Allmenschheitsgluck noch schlimmere Verbrechen begehen, und du wirst Schander und Morder werden. Dafur gibt’s keinen Segen!« Israel versuchte noch, seinen Vater zu uberreden, aber der Vater schickte ihn mit dem Satz weg: »Ein Schapiro tut so etwas nicht. Und jetzt geh!« und vertiefte sich wieder in seine Studien.

 

 2 Eine Aussage des Aussagesystems hei.t entscheidbar, wenn man nur mit Mitteln des Aussagesystems und der Logik entscheiden kann, ob diese Aussage wahr oder falsch ist. Die Aussagen, uber welche es nicht moglich ist, eine solche Entscheidung zu treffen, hei.en unentscheidbare Aussagen oder Satze.

 

Resonanzlosigkeit erdruckte Schlomo-Chaim. 1924 veroffentlichte Kurt Godel in den Mathematischen und Physikalischen Heften in Berlin den Grundstock seines Beweises uber die Existenz und Notwendigkeit von unbeweisbaren Satzen in den der Arithmetik aquivalenten Aussagesystemen. Schlomo-Chaim uberlegte, einen Brief an Kurt Godel zu schreiben, und doch verzichtete er darauf.

 

Sowohl bei Kurt Godel als auch bei Schlomo-Chaim Schapiro bleibt eine wichtige Frage offen: Wie viele unentscheidbare Satze kann es in einem Aussagesystem geben? Klar, unendlich viele, aber zu welchem Anteil? Schlomo-Chaim stellte seine »Gnostische Hypothese« auf: Der Anteil unentscheidbarer Satze in der unendlichen offenen Menge nichttrivialer Satze kann in einem speziell konstruierten Aussagesystem asymptotisch beliebig klein werden. Aber auch das konnte er nicht veroffentlichen.

 

Mittellos, verdiente Schlomo-Chaim in Petrograd wie spater in Leningrad den kummerlichen Lebensunterhalt fur seine Familie als Buchhalter bei einer kleinen Schuhfabrik. Er bekam so wenig, da. die Familie ohne die Arbeit von Israel als Lastentrager im Petrograder Hafen seit seinem siebzehnten Lebensjahr sicher hatte verhungern mussen.

 

Unterdessen verschlo. sich Schlomo-Chaim den anderen gegenuber immer mehr. Es ware falsch zu sagen, da. er depressiv wurde, er wandte sich immer mehr nach innen und entwickelte autistische Verhaltenszuge. Er verlor den Kontakt zu seinen kleineren Kindern, und nur seiner Frau und Israel vertraute er noch seine Gedanken an, weil nur noch die beiden bereit und willens waren, ihm zuzuhoren.

  Seit den spaten zwanziger Jahren glaubte Schlomo-Chaim daran, da. die geistige Leistung des Menschen ein »Seinsopfer« sei und da. Gott alleine daruber verfuge, zwar gerecht, aber unergrundbar, und das tue dem Menschenherzen unendlich weh. Seitdem kummerte sich Schlomo-Chaim um seine Werke nicht mehr, sobald er sie beendete, seien es mathematische Ausfuhrungen oder Gedichte. Die Rente, die er in dieser Zeit bekam, reichte gerade fur eine Monatsfahrkarte, seine Frau Hannah bekam eine Rente als »heldenhaft kinderreiche Mutter« fur ihre sechs Kinder. Das reichte damals gerade, um notdurftig uber die Runden zu kommen.

 

Im Alter sprach Schlomo-Chaim in seinem Inneren immer ofter mit dem schon seit langem verschiedenen Makari. Die Erforschung prinzipieller Grenzen der Begreifbarkeit Gottes gelang ihm wenigstens zum Teil, doch spielte ihm das Leben einen Streich, und die ganze Erkenntnis schien zusammen mit dem frommen Forscher in die unabwendbare Vergessenheit zu versinken.

 

Die Stimmen in seinem Kopf machten eine ganze Gesprachsrunde aus. »Auch das vergeht«, sagte sein Urahn und Namensvetter Konig Salomo. »Ein Schutzstein, Saphir zum Beispiel, oder ein Spruch mu. gut gefa.t werden, damit er richtig wirke«, belehrte ihn Kalam. »Schon jetzt kennt dich keiner«, schrie der sich immer im Recht wissende Jizchak. Mendel-Hendrik riet, die Erkenntnis im Privatdruck zu veroffentlichen, und argerte sich, ob Schlomo-Chaim nicht mehr wisse, wo seine Aufzeichnungen seien. Nehamiah ermunterte ihn: »An dem Verstandnis, was hier richtig zu tun ist, mussen wir bewu.t arbeiten.« Genrich trostete: »Du wirst den richtigen Weg schon finden.« Makari sagte wieder, da. es alleine der Lebensproze. an sich sei, mit dem die Grenzen der Begreifbarkeit Gottes erfahren werden konnen. »Denk an deine Kinder«, flusterte Hannah. Gott lachelte.

 

Schlomo-Chaim rief Israel zu sich und bat ihn, einige schwierige Satze auswendig zu lernen und seinen zukunftigen Kindern beizubringen, damit sie sie auch ihren Kindern weitergaben

und so weiter, bis jemand aus der Familie entscheiden konne, ob die Satze von Schlomo-Chaim, die ich hiermit aufgeschrieben habe,

wahr oder falsch

 seien. Mein Vater hat dies getan, ohne je ein Wort davon zu verstehen, aber in der Uberzeugung, da. er damit die Pflicht des Gebots, die Eltern zu ehren, erfullte.

 

Ich meinerseits habe jahrelang forschen mussen, um aus dem auswendig Gelernten von meinem Vater Israel, aus wenigen Notizen, die von Schlomo-Chaim geblieben sind und aus eigenen Studien eine zusammenhangende Vorstellung uber das Leben von Schlomo-Chaim und uber seine Beweggrunde zu erarbeiten. Dabei hatte ich oft das Gefuhl, da. sich etwas in mir offne und ich die Stimme meines lieben Gro.vaters Schlomo-Chaim, den ich nie gekannt habe, wahrnehme, und da. ich von dieser Stimme unendlich dankbar lerne.

 

Die Verantwortungsfahigkeit eines Menschen ist naturlich immer individuell. Schlomo-Chaim fragte nach dem maximal moglichen Grad menschlicher Verantwortung, der mit dem Begriff Verantwortung noch vertraglich sei. Diesen Grad setzte Schlomo-Chaim dem Ma. gleich, in welchem der Mensch in der Lage sei, echte Entscheidungen zu treffen. Der Anteil des Entscheidbaren am Ganzen ist nach Schlomo-Chaim das Ma. der maximal zumutbaren Verantwortung.

 

Hiermit sah Schlomo-Chaim zwei weitere Probleme verbunden: das Problem der Erkenntnis des Anteils des Entscheidbaren, um die Verantwortungspflicht nicht zu vernachlassigen, weder durch Unterlassung noch durch Ubertreibung; das Problem des Willens, also der Umsetzbarkeit von Entscheidungen, die dadurch auch zur Entscheidungsfahigkeit gehort.

 

Beide Probleme hangen sowohl mit der Lebenspraxis als auch mit der Erkenntnis Gottes als oberstem Schopfungsprinzip zusammen. Letztlich ging es Schlomo-Chaim darum, an der Schopfung pflichtgema. und freudig teilzunehmen und keinen Unfug mit dieser Teilnahme zu treiben.

 

Nun ist der menschliche Geist laut der »Gnostischen Hypothese« von Schlomo-Chaim im Prinzip fur nahezu alles verantwortungsfahig, wenn er sich damit lange und ernst genug beschaftigt, weil »der Anteil des Unentscheidbaren in einem verantwortungsbewu.t gefuhrten Lebensproze. asymptotisch beliebig klein werden kann«. Verantwortungsbewu.te Selbstfuhrung, langes Leben und gute Bildung sind daher die Pflichten des religiosen Menschen. In unserer Familiengeschichte gibt es dafur genug Beispiele. Der Ungebildete kann nicht gut fromm sein.

  Schlomo-Chaim wurde langst klar, da. der Streit zwischen ihm und Makari letztlich dem Streit uber die Henne und das Ei ahnelte. Die Geschichte ist ein Aussagesystem uber den Lebensproze.. Sie steuert das Leben und wird zugleich von ihm getragen.

 

Als Achtzigjahriger beschaftigte sich Schlomo-Chaim mit der Geschichte seiner Familie. Er ordnete Ereignisse, archivierte Dokumente und verfa.te die Familienchronik in sieben gro.en gebundenen Heften.

 

Im Jahre 1936 kam sein Sohn Israel eines Tages verzweifelt und au.er Atem und sagte, da. er auf der Flucht sei, verfolgt von der Miliz und der GPU. Die Verfolger waren ihm bis zum Wohnblock gefolgt, und es war klar, da. es nur um Minuten gehen konnte, bis sie auch die Wohnung finden wurden. Schlomo-Chaim befahl Israel, das Laken aus dem Bett zu holen. Er wickelte die alte von Genrich geschriebene Thora-Rolle in das Laken ein, legte sie Israel auf die rechte Schulter, segnete ihn und sagte: »Jetzt geh. Sie wird dich beschutzen.« Israel ging

ruhig mit dem gro.en wei.en Gepackstuck auf der Schulter an seinen Verfolgern dicht vorbei. Sie haben ihn einfach nicht gesehen.

 

Als Schlomo-Chaim das Sterben nahe wahnte, gab er das Familienarchiv mit allen Gegenstanden an Ilja Petrowitsch Jawitsch, einen Freund und Lehrer von Israel, zum Aufbewahren, bis Israel in der Lage sein wurde, die Sachen wieder an sich zu nehmen. Ilja Petrowitsch Jawitsch war Kunstsachverstandiger der Eremitage noch vor der Oktober-Revolution 1917 und blieb es auch in den Sowjetzeiten. So hatte Jawitsch sowohl Verstandnis fur den ihm anvertrauten Schatz als auch gute Moglichkeiten, ihn aufzubewahren.

 

Schlomo-Chaim starb am 18.Mai 1938 in Leningrad im Alter von achtundachtzig Jahren. Israel wurde benachrichtigt und kam zum Begrabnis. Als er und der damals vierzehnjahrige Ljolja (Lew Bimman) auf dem Ruckweg vom Friedhof zusammen in der Stra.enbahn fuhren, sahen sie einen angeheiterten Mann mit groben Gesichtszugen, der die Fahrgaste mit ubertriebener Gestik aufklarte: »Hauptsache Ordnung! Wer sich ordentlich auffuhrt, hat immer recht!« Plotzlich brach Israel in lautes Lachen aus. »Wie kannst du nur«, schamte sich Lew fur ihn, »der Kaddisch ist kaum noch verklungen, und du lachst.« Israel schien unbekummert amusiert zu sein und antwortete: »Mein Vater lacht in mir, diesen Idioten zu horen.«

 

ISRAEL UND BERTA

  

Nachdem sein Vater sich 1918 geweigert hatte, ihn zu segnen, zog Israel in den Burgerkrieg als Rotarmist unter dem falschen Namen Boris Borissow, weil sein Vater sagte, da. »ein Schapiro so etwas nicht tut«.

 

Bald wurde der gerade achtzehn gewordene Israel Kommandeur einer Kosakenschwadron und bekam den Befehl, alle Bewohner – Frauen und Kinder – von zwei bereits eingenommenen Stanizen zu massakrieren, die Hauser zu verbrennen und die Stanizen dem Boden gleich zu machen. Er besann sich auf den nicht erhaltenen Segen seines Vaters und beschlo. zu desertieren. In einem Meeting uberredete er die meisten seiner Kosaken, auch zu desertieren. Israel verlie. die Rote Armee als Boris Borissow und tauchte im zivilen Leben wieder als Schapiro auf. Das rettete ihn, weil er ru.land- und dann auch allunionsweit als Kriegsverbrecher und Deserteur noch Jahrzehnte lang gesucht wurde.

 

Diese Ereignisse haben ihn tief religios gemacht. Jedoch ubte er die kultische Seite seiner Religion im Verborgenen. Die Erfahrungen in der Armee hatten ihn uber das Wesen des Sowjetsystems genug aufgeklart.

 

In Petrograd arbeitete Israel wieder als Lastentrager im Guterhafen und machte Abitur an einer Abendschule. Danach studierte er Wirtschaft im »Institut der Roten Professur« und wurde Professor fur Wirtschaft an der Petrograder Polytechnischen Hochschule. Der Sozialstatus »Arbeiter, Bauernsohn« machte Israel den Aufstieg im Staate der Diktatur des Proletariats leicht.

 

In Leningrad kummerte sich Israel um die soziale Versorgung und um die gewerkschaftliche Integration von Wissenschaftlern. Er grundete einen »Klub der Wissenschaftler in Lesnoje«. Dieser Klub wurde spater in ein »Haus der Wissenschaftler« verwandelt, auf dessen Basis die Mitglieder bis heute soziale und kulturelle Unterstutzung bekommen.

 

1936 wurde Israel einem Ehrengericht der Polytechnischen Hochschule unterworfen, weil er in einer offentlichen Vorlesung zu sagen gewagt hatte, da. die marxistisch-leninistische Wirtschaftslehre nicht die allerletzte Wahrheit, sondern nur eine Zwischenstufe auf dem Wege zum richtigen okonomischen Wissen sei und da. es die Pflicht des sozialistischen Wissenschaftlers sei, an der Verfeinerung dieser Lehre zu arbeiten und empirisch zu forschen. Diskutiert wurde, ob die Administration der Hochschule den Antrag bei der GPU auf die Verfolgung von Professor Schapiro als »Feind des Volkes« stellen solle. Es wurde beschlossen, abzuwarten, das Verhalten von Professor Schapiro ein Jahr lang systematisch zu beobachten und ihm fur diese Zeit offentliche Auftritte zu untersagen.

 

Als Israel nach dieser Versammlung betrubt und nachdenklich nach Hause ging, wurde er am Newski Prospekt auf offener Stra.e ausgerechnet von seinem ehemaligen Politkommissar erkannt. »Boris Borissow«, schrie er, »haltet den Verbrecher!« Die Miliz und eifrige Freiwillige rotteten sich schnell ganz im Geiste dieser Zeit zum Verfolgungstrupp zusammen. Nach langem und ermudendem Lauf haben sie den Verbrecher kurz aus dem Blick verloren. Die zur Hilfe gerufene GPU-Mannschaft fing an, den Wohnblock zu umstellen. Den gro.en Mann, der ein schweres wei.es Paket gemachlich auf der Schulter vorbeitrug, beachtete keiner von ihnen. Die totale Durchsuchungs- und Befragungsaktion in diesem Wohnblock ergab nichts. Der Verbrecher Boris Borissow hatte sich wie in Luft aufgelost. Mit der Thora auf der Schulter stieg Israel Schapiro in den Zug nach Moskau.

  Unterstutzt von Iwan Pawlowitsch Bardin, seinem ehemaligen Lehrer im »Institut der Roten Professur«, der inzwischen Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR geworden war, begann Israel mit der Organisation der empirischen Wirtschaftsforschung im Bereich der Eisenerzmetallurgie. Er wurde fur die Erarbeitung des gemeinsamen Forschungsproposals der Akademie der Wissenschaften und des Ministeriums fur Schwarzmetallurgie bei der sowjetischen Regierung verantwortlich. Da die Schwarzmetallurgie auf Kohle und Koks angewiesen war, besuchte Israel oft das Ministerium fur Kohleindustrie, wo er 1938 seine zukunftige Ehefrau Berta Gorewa, geborene Schaz, traf.

 

In der Ehe brannte es wie in einem Hochofen. Das hei.e Temperament meiner kohleaugigen Mutter traf sich gut mit der eisernen Geduld des Vaters. Letztlich haben sie mich am Ende des Gro.en Vaterlandischen Krieges 1944 ausgeschmolzen. Zuvor aber passierte einiges Erzahlenswerte.

 

Berta kam in das Kohleministerium, um Arbeit zu suchen. Israel sah sie, beugte inmitten des Publikumsverkehrs vor ihr das Knie und bat sie um ihre Hand. Sie ignorierte ihn. Er verfolgte sie. Nach einem Jahr willigte sie ein.

 

Ihr erster Mann, Naum Gorew, geborener Edelmann (oder Rosenblum? Das Gedachtnis fangt an, mir Streiche zu spielen), trat sehr fruh der Sozialdemokratischen und dann der Kommunistischen Partei bei und nahm das Pseudonym Gorew an. 1921 wurde er als oberster Sicherheitsbeamter nach Turkestan in Zentralasien abkommandiert, um dort die Sowjetmacht zu festigen. Die damals funfzehnjahrige Berta aus Odessa brannte mit ihm durch. In diesem Alter konnte sie ihn nur dort heiraten.

 

Mehrfach ausgezeichnet, wurde Gorew nur wenige Jahre spater der fur die Sicherheit verantwortliche Kommandant des Kremls in Moskau. Die junge Sowjetrepublik hatte damals vier gro.e Lincoln-Cabrios fur Reprasentationszwecke gekauft. Eins davon hatte Berta Gorewa zu ihrer Verfugung, von da an verstand sich die zwanzigjahrige Schonheit als Vierte Lady im Staat.

 

Der kluge, weitsichtige Naum Gorew verstand bereits 1931, da. er als altgedienter Parteiexponent eine der nachsten Parteisauberungen nicht uberleben und da. seine geliebte Frau unabwendbar in Mitleidenschaft gezogen wurde. Um sie zu retten, lie. Gorew sich zum Schein von ihr scheiden, mietete fur sie eine neutrale, unauffallige Wohnung, wo er sie konspirativ besuchen konnte, und zwang sie, einen brauchbaren Beruf zu erlernen. Berta qualifizierte sich zur Wirtschaftsingenieurin in den Bereichen Polygraphie und Energieversorgung.

 

1935 wurde Naum Gorew verhaftet und bald danach hingerichtet. Rechtzeitig gewarnt, tauchte Berta im Untergrund unter. 1938 gab es eine kurze Entspannungswelle im staatlichen Verfolgungswahn: Als Vorwand fur die nachste Sauberung unter den Sicherheitskraften wurde eine ganze Reihe von fruher hingerichteten Parteifunktionaren rehabilitiert. In der veroffentlichten Liste der Rehabilitierten fand Berta den Namen Gorew. Sie tauchte aus dem Untergrund auf und kam in das Kohleministerium, um Arbeit zu suchen.

 

Als Israel um ihre Hand warb, hatte Berta die Hoffnung noch nicht aufgegeben, da. Naum die Verfolgung in einem entfernten Konzentrationslager irgendwie doch uberlebt haben konnte. 1939 bekam sie die offizielle Bescheinigung, da. Naum 1935 erschossen worden war, und willigte ein, Israel zu heiraten.

  Bald wurde Berta im Kohleministerium Technische Leiterin der Controlling-Gruppe. Sie mu.te sehr viel reisen und sich um die Produktivitat verschiedener Kohleabbaubetriebe in der ganzen Sowjetunion kummern. Der Zweite Weltkrieg kam nach Ru.land, als sie 1941 die Bergwerke des Kusnezker Beckens im Osten inspizierte. Sie brauchte zwei Monate, um gegen den Hauptreisestrom Moskau zu erreichen.

 

Ihr Ministerium, wo sie sich direkt vom Bahnhof aus meldete, war mit der Evakuierung fast fertig. Sie bekam nur drei Tage, um ihre Controlling-Gruppe und ihre Familie fur die Evakuierung parat zu machen, aber Israel war nirgendwo zu finden, weder zu Hause noch an seinem Arbeitsplatz. Als Berta erschopft dem Bett naherkam, sah sie einen Zettel auf ihrem Kopfkissen: »Liebling, ich konnte nicht anders. Hab keine Sorgen, bin an die Front gegangen. Ich mu. gegen die Faschisten kampfen, um das sowjetische Volk, alle Juden und insbesondere dich zu schutzen. Denk an mich, und Gott wird mir helfen. Immer mit dir im Herzen.«

 

»Idiot!« sagte die Vierte Lady, die die Geschichte von Boris Borissow uberhaupt nicht kannte, weil Israel eben ein Romantiker, aber kein Schwatzer war. Sie ha.te und furchtete Stalin und die Sowjetmacht, weil sie ihnen ihren Gorew nicht verzeihen konnte, aber das Leben ihres zweiten und auch geliebten Mannes zu riskieren, war sie nicht im geringsten bereit. »Gott wird mir helfen, warte nur«, murmelte sie ironisch verbittert dem Zettel nach, ohne zu merken, da. Er schon dabei war.

 

Berta bestimmte zwei Vertreter fur die Evakuierung ihrer Controlling-Gruppe und bekam als Evakuierungsleiter vom Stellvertretenden Minister die Erlaubnis, ihre Gruppe eine Woche spater auf eigene Verantwortung einzuholen. Au.erdem erstellte sie fur ihre Vertreter einen genauen Zeitplan fur die vorbereitenden Ma.nahmen und fur die Organisation der Abreise. Danach erkundigte sie sich am zustandigen Einberufungspunkt uber ihren Mann. Israel hatte sich als Freiwilliger fur die Volkswehr gemeldet und war bereits vor einem Monat abgezogen.

 

Jetzt stand ihr das Schwierigste bevor. Wer wei. schon, was sich in zehn Jahren alles andern kann oder auch nicht. Es blieb ihr nichts anderes ubrig, als ihre alten Beziehungen ins Spiel zu bringen. Das Risiko war nicht uberschaubar. Berta meldete sich fur die Sprechstunde bei dem damals allmachtigen Abakumow an. Er empfing sie sofort, als er ihren Namen horte.

 

Funf Tage spater brachte ein Woronok, so nannte man die schwarzlackierten Einsatzwagen der GPU, den nichts begreifenden Israel zu ihr nach Hause. Der begleitende Wachoffizier quittierte bei Berta Gorewa die Ubergabe, salutierte lachelnd, schlug die Hacken zusammen und verschwand. Nicht gleich verstand Israel, da. er frei und bei seiner Familie war. Berta und ihr Mann erreichten die Controlling-Gruppe des Kohleministeriums in der Evakuierung auf dem Ural nur mit geringer Verspatung.

 

Von rund einer halben Million Moskauer Volkswehrsoldaten sind in wenigen Monaten nicht mehr als siebzig am Leben geblieben. Abakumow selbst wurde bei der nachsten Sauberungsaktion abgesetzt und auf Stalins Befehl erschossen.

 

Wahrend die Familie evakuiert war, wurde das von Schlomo-Chaim geordnete Archiv in einem Bombenangriff auf Leningrad zusammen mit der Wohnung von Ilja Petrowitsch Jawitsch und seiner einmaligen privaten Kunstsammlung ganzlich zerstort. Ilja Petrowitsch und seine Frau uberlebten, weil sie zur Zeit des Angriffs nicht zu Hause waren. Mein Vater

machte mich mit der Familie Jawitsch bei einem Besuch in Leningrad 1956 oder 1957 bekannt, wobei Ilja Petrowitsch uber das Schapiro-Archiv erzahlte, was er noch wu.te.

 

Die Zeit der Evakuierung und die Ruckkehr meiner Eltern in das vom Krieg gezeichnete Moskau will ich hier aus Zeitmangel uberspringen, obwohl es da auch einige fur die Familie wichtige Ereignisse gab.

 

Mein Vater hat mich Baruch genannt. Das ist ein sehr alter Name und bedeutet auf hebraisch der Gesegnete. Die Standesbeamtin verweigerte ihm aber die Eintragung. Seit 1943 durfte man Kindern auf dem russischen Territorium entweder russische oder neutrale Namen geben, aber nicht Namen, die eine nichtrussische Volkszugehorigkeit betonen wurden. Bevor ich erwachsen wurde, konnte ich nicht verstehen, wieso die sowjetische Regierung wahrend des bedrohlich schweren Krieges noch Zeit und Leute hatte, um diese Beschrankungen in der Namensgebung zu beschlie.en und durchzusetzen. Spater erfuhr ich, da. dies mit der Stalinschen Legitimation der Volkerdeportationen zusammenhing. Der Name Baruch stand auf jeden Fall nicht in der Liste der zugelassenen Namen.

 

Wegen der Klangahnlichkeit wurde ich mit dem russischen Namen Boris genannt. Der Name Boris ist mit dem Wort Preu.e verwandt und bedeutet der Kampfer. Dem Vater war auch das recht. Er meinte, da. die Namen eigentlich im Herzen und nicht blo. auf dem Standesamt gegeben werden. Er nannte mich zu Hause Baruch und oft auch Boris Borissow. Meine sensible Mutter verstand die Ansprache Boris Borissow als Kosename nicht und argerte sich eifersuchtig, weil sie darin etwas verspurte, wozu sie keinen Zugang hatte und wodurch sie sich ausgeschlossen fuhlte.

 

Die empirische Wirtschaftsforschung im Bereich der Eisenerzmetallurgie war keine leichte Aufgabe. Es fehlte alles: Verstandnis der Notwendigkeit, Mittel, administrative und wissenschaftliche Infrastruktur. Wahrend seines achtundzwanzigjahrigen beruflichen Lebens in Moskau schuf Israel Schapiro folgende Institutionen, die er in der Anlaufzeit auch selber leitete: Rat fur die Erforschung der Produktivkrafte beim GOSPLAN der UdSSR (SOPS); Bibliographische Kommission, die das umfangreiche Bibliographische Handbuch uber Eisenerze unter Israels Anleitung und Redaktion herausgab; Kommission fur die langfristige Wirtschaftsplanung beim GOSPLAN der UdSSR; Kommission fur die multidisziplinare Erforschung der Kursker Magnetischen Anomalie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR; den in den zwanziger Jahren gegrundeten Klub der Wissenschaftler in Lesnoje in Leningrad erwahne ich hier noch einmal vollstandigkeitshalber.

 

Trotz des beruflichen Erfolgs wurden Israel und Berta Schwierigkeiten nicht erspart. 1952 entging Israel einer Verhaftung nur knapp, denn er hatte versucht, zugunsten eines in die »Arzteaffare« als Nebenangeklagter verwickelten Freundes auszusagen. Nur Stalins Tod 1953 stoppte die schon vorbereitete Deportation der Juden aus den Zentralgebieten nach Sibirien. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie die russischen Nachbarn, Sanitartechniker und Stra.enfeger im Sommer 1952 in unserer Wohnung die Mobel aufteilten, wer was nach unserer Deportation bekommen wurde. Es gab auch Streitereien unter ihnen. Bis April 1953 mu.ten meine Eltern die Klebezettel auf den Mobeln dulden, weil die zukunftigen Besitzer ihren Eigentumsanspruch regelma.ig kontrollierten und sich gegenseitig bespitzelten. Die Klebchen »Onkel Wassja, Stra.enfeger« auf der Anrichte und »Kostja Martaschow, Techniker der Hausverwaltung 1/2« auf dem Klavier stehen mir auch heute noch vor Augen. »Also, Junge«, scharfte mir der Stra.enfeger Wassja ein, »wenn wer das hier abnimmt, dann kommst du gleich zu mir. Sonst buh. Verstanden?«

  1956 offneten sich die GULAG-Konzentrationslager. Die Uberlebenden wurden massenhaft entlassen. Die meisten kamen krank heraus. Sie hatten weder ein Zuhause noch Arbeit. Israel, der in seinen Institutionen uber Arbeitsplatze verfugte, stellte so viele ehemalige Haftlinge ein wie nur moglich. Eines Tages, als Israel schon alle vorhandenen Stellen besetzt hatte, bat Berta ihn, fur ihren Odessaer Spielkameraden und spateren engsten Mitarbeiter ihres ersten Ehemannes Gorew namens Notarjew, der achtzehneinhalb Jahre in den KZs verbracht hatte, eine Stelle zu finden. Israel machte Notarjew zu seinem Stellvertreter in der Bibliographischen Kommission.

 

1958 wurde Israel beschuldigt, zwei Millionen Rubel veruntreut zu haben. Notarjew, der Hauptzeuge war, machte meinen Eltern den Vorschlag, da. meine Mutter Israel verlassen und ihn heiraten solle, dann wurde er Israel aus dem Schlamassel heraushelfen. Notarjew war schon als Jugendlicher in meine Mutter verliebt gewesen, aber der altere Gorew hatte bei ihr mehr Gluck gehabt. Notarjew trat in den drei.iger Jahren dem Stab von Gorew bei, um, wie er sagte, in Bertas Nahe zu sein und ihr zur Verfugung zu stehen, wenn mit Gorew irgend etwas passieren sollte, weil damals vielen etwas passierte, und ihm selbst passierte es spater auch. Schade nur, da. Berta, als es Gorew passierte, dummerweise einfach verschwunden war und sich bei ihm leider nicht gemeldet hatte.

 

Jetzt aber sei die Zeit ganz anders. Ins Gefangnis komme man nur, wenn man wirklich ein Verbrechen begangen habe, wie mein Vater mit den zwei Millionen Rubeln zum Beispiel. Aber er, Notarjew, habe genug Verbindungen, wo man sie brauche, um meinen Vater von der Geschichte zu befreien oder halt umgekehrt, um ihn im Gefangnis oder im KZ zu den Wurmern zu schicken.

 

Mit diesem Vorschlag kam Notarjew zu uns nach Hause und trug ihn ungeniert und triumphierend in meiner Anwesenheit vor. Meine Mutter flog nahezu uber den Tisch zu Notarjew und packte ihn so schnell am Hals, da. er sie nicht abwehren konnte. Sie wurgte ihn, zerkratzte ihm in blinder Wut Haut und Haare, da. sein Gesicht blutete. Es waren aber keine ernsten Verletzungen. Notarjew besann sich und fing an, meine Mutter gekonnt zu schlagen. Dann fiel mein Vater uber ihn her. Zu zweit schmissen meine Eltern Notarjew buchstablich die Treppe hinunter. Er rannte schreiend weiter, da. sie es noch bereuen wurden. Die Untersuchungszeit endete fur meinen Vater nach zwei Jahren mit voller Anerkennung seiner Unschuld. Wie in einer dummen Anekdote fand man die fehlenden zwei Millionen Rubel eben bei dem besagten Notarjew in der Wohnung. Aber seine Beziehungen reichten aus, um die weitere Untersuchung einzustellen. Danach arbeitete Notarjew als Sachbearbeiter in der Staatsanwaltskanzlei.

 

BORIS BORISSOW

 Die Kommission fur die langfristige Wirtschaftsplanung war Lieblingskind und zugleich Hauptinstrument, mit dem Israel Forschungsauftrage vergeben konnte. Die Notwendigkeit, die Einheiten »pro Kopf« in den langfristigen Wirtschaftsplanen zu benutzen, verschaffte Israel Zugang zu den geheimen statistischen Daten uber die Bevolkerungsentwicklung und -bewegung in der Zentralen Statistischen Verwaltung. Seine Hochrechnung fur die Anzahl der ermordeten Opfer des sowjetischen Regimes zum funfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution 1917 ergab eine schreckliche Zahl: rund achtzig Millionen, die Kriegsopfer waren dabei nicht mitgezahlt.

 

Berta konnte viele Nachte lang vor Sorge nicht schlafen, als sie von den achtzig Millionen Opfern als Nebenergebnis von Israels empirischer Forschung horte. Es kostete sie viel Muhe und Einfallsreichtum mit Szenen, Tranen und Vorwurfen, um Israel vor der Veroffentlichung dieser Zahl und damit vor der Dissidentenkarriere zu bewahren. Er wurde damit die ganze Familie, den Freundeskreis und sein Lebenswerk zerstoren, wahrend man die Toten durch die Selbstaufopferung nicht wieder lebendig machen konne. Ihr Hauptargument aber war, da. sie ihm einmal das Leben gerettet und jetzt das Recht habe, uber sein Leben zu bestimmen und ihm den Selbstaufopferungsakt zu verbieten.

 

Letztlich beugte sich Israel ihrem starken Willen, aber Boris Borissow bekam gewaltige Gewissensprobleme. In dieser Zeit begann auch Israel, Stimmen zu horen. »Nie und nimmer kann dein Leben jemandem au.er dir und deinem Gott gehoren«, horte er Schlomo-Chaim sagen, »sonst bist du ein Sklave und kein Jude.« »Im Prinzip ja, aber die judische Ehefrau und Mutter hat hierfur ihre Sonderrechte«, mischte sich Genrich ein. »Insbesondere die Ehefrau«, fugte jemand hinzu, den Israel nicht kannte, er wu.te aber, da. er auch sein Vorfahr und ein Bet-Din-Richter war, »weil sie mit dir vertraglich verbunden ist.« »Der Ehevertrag regelt aber die Gewissensfragen nicht«, widersprach Schlomo-Chaim, »und schrankt die Gewissensfreiheit keineswegs ein.« »Der Ehevertrag erlegt Verantwortung auf. Ein Verheirateter ist der Vorfahr seiner Nachkommenschaft und hat Pflichten vor ihr und vor seiner Frau«, belehrte der Richter. »Und wenn er ein Feigling ist?«, erhob Boris Borissow die Stimme. »Feigling ist er nicht«, sagte Israel. »Er ist verruckt. Ein verruckter Tolpel ist er«, beklagte sich Berta, »Leichtsinn ist sein Name, die romantische Selbstherrlichkeit!« »Es geht nicht darum, wer er ist, sondern wie ihm mit seinem Problem geholfen werden kann«, sagte Schlomo-Chaim. »Schau«, versuchte Genrich die Diskussion zu beenden, »dein Vorfahr Nehamiah war nicht weniger fromm als du, aber viel weiser. Deswegen konnte er einen unnotigen Konflikt vermeiden, ohne seine Meinung zu verbergen. Vielleicht wartest du ein wenig, bis der richtige Moment kommt?« »Denk an deine Kinder«, flusterte Hannah. Ihre Stimme war zartlich und warm. Noch eine dunne Stimme, die leiseste, die aber alle anderen ubertonte, sprach nicht mit Wortern, sondern tat einfach weh.

 

Ich sagte, da. wenn sich mein Leben weiter so entwickeln wurde wie bisher, ich wahrscheinlich die Sowjetunion bald wurde verlassen und nach Israel auswandern mussen. Dann wurde ich uber Vaters Hochrechnung offentlich berichten. 3 Dieser Vorschlag entspannte die Lage. Mehr haben wir damals, 1970, daruber nicht geredet.

 3 Das tat ich 1976 und 1978 in Deutschland. Erstaunlich ist, was fur einen Riesenwiderstand ich sowohl bei den Medien als auch bei den Zuhorern im offentlichen Vortrag uberwinden mu.te. Viele wollen es nicht wissen, weil sie dieses Wissen nicht ertragen konnen. Eben das schutzt die Tater, da. ihre ungeheuerliche Tat dem menschlichen Ermessen unbegreiflich bleibt und da. hinter den gro.en Zahlen, die dem Unendlichen naher als dem Alltaglichen sind, nicht konkrete Menschen mit ihren Leiden und Sorgen gesehen werden.

  Meine Absicht, nach Israel auszuwandern, traf auf die heitere Zustimmung meines Vaters und auf dusteren Schmerz bei meiner Mutter. 1972 bereitete ich meine Ausreise nach Israel vor. Da passierte mit mir aber etwas, was meine lieben Eltern nicht betraf und was meine Ausreise damals vereitelte. Im Weiteren lernte ich Hella Gaumnitz Ende 1973 kennen, im Januar 1975 habe ich sie unter abenteuerlichen Umstanden geheiratet und bin im Dezember desselben Jahres nach Deutschland, wo meine Frau herkommt, emigriert.

 

Als ich den Ausreiseantrag beim zustandigen Bezirks-OWIR stellen wollte, fand ich dieses als ein Provisorium in den Raumen einer Polizeistation. Ich kam zufallig kurz vor der Mittagspause und mu.te eine ganze Stunde warten. Alle Turen waren zu. Ich durfte im Flur sitzen. Au.er mir war niemand da. Ich hatte kein Buch dabei. Vor Langeweile begann ich mich umzuschauen. Die Wande waren voll von alten Steckbriefen, eine ganze Sammlung von ihnen. Ich schaute die ziemlich verdachtig wirkenden Steckbriefgesichter an und versuchte, mir die Menschen dahinter vorzustellen.

 

Ein Gesicht zog meine Aufmerksamkeit besonders an. Auf dem alten Foto war ein sehr junger Mann mit offenem, freundlichem Gesicht zu sehen, mit starkem Buschelhaar, in der Rotarmistenuniform mit der linken Hand auf dem Sabel und der Kosakenpelzmutze unter dem rechten Arm. Sein auffallend nettes Gesicht pa.te nicht zu der Beschreibung seiner furchterlichen Verbrechen:

 

Boris Borissow, der am langsten gesuchte noch immer nicht gefa.te Kriegsverbrecher. Deserteur, Saboteur und vermutlich Spion. Stets bewaffnet und au.erst gefahrlich.

 

Vereitelte am 20.Januar 1919 eine wichtige militarische Aktion der Roten Armee im Kuban, verursachte mehrfach verschiedene Niederlagen. Organisierte Attentate auf die fuhrenden Offiziere der Roten und nachher der Sowjetischen Armee. Verursachte nach dem Burgerkrieg Sabotageakte auf industrielle Einrichtungen, Verkehrsanlagen sowie militarische Objekte mit schweren Folgen. Wurde am 28.April 1936 bei einer Gro.razzia gefa.t, konnte jedoch entkommen. Verursachte wahrend des Gro.en Vaterlandischen Krieges aus Ha. auf das Sowjetvolk unerme.lichen Schaden mit vielen Opfern. Setzte nach dem Gro.en Vaterlandischen Krieg seine Sabotageaktivitaten fort. Zuletzt aufgefallen am 12.Januar 1953.

 

Fur Aufenthaltshinweise und Hilfe bei der Ergreifung sind eine Geldpramie und eine Auszeichnung der Sowjetischen Regierung ausgesetzt.

 

Das Bild des bosen Supermans vertrug sich nicht mit dem freundlichen Gesicht des jungen Rotarmisten. Sehr ungewohnlich war auch, da. jemand fast funfunddrei.ig Jahre lang sein Unwesen im Lande mit dem besten Sicherheits- und Aufklarungssystem uber zwei Kriege

hinweg ohne einen gravierenden Fehler treiben konnte und da. es noch offentlich bekannt gemacht wurde. Der Sammler von Raritaten und Kuriositaten in mir uberwand den anstandigen braven Burger, und ich klaute den alten Steckbrief und hangte ihn in meiner Wohnung an der Eingangstur von innen auf.

 

 

Zum allerersten Mal in meinem Leben sah ich meinen Vater bla. werden, als er mich bald darauf besuchte und den Steckbrief bemerkte. Dann erzahlte er mir eben das, was du, mein lieber Leser, schon wei.t. Boris Borissow war der noch erfolgreichere Podporutschik Kische des 20.Jahrhunderts, aber in sowjetischer Manier.

4

 

 

Israel, im funfundsiebzigsten Lebensjahr kahlkopfig mit der Papageiennase, war auf dem Steckbrief nicht zu erkennen. Ich erinnerte mich daran, da. ich noch niemals Fotos von Israel vor seiner Hochzeit mit meiner Mutter gesehen hatte. Vater bat mich, mit dem Schicksal nicht zu spa.en und das Plakat wegzustecken. Das habe ich naturlich getan.

 

»Wenn ich sterbe, sollst du mich in Israel begraben«, sagte Vater. »Warum?« »Damit ich unter den ersten auferstehen kann, wenn der Meschiach kommt.« Ich wu.te nicht, ob er scherzte: »Was wirst du machen, wenn du auferstehst?« »Oh, es wird viel zu tun geben. Die himmlische Burokratie wird auch nicht ohne Fehler arbeiten konnen. Da mu. man sehr aufpassen. Die Folgen sind viel bedeutender als bei der irdischen. Au.erdem sind die weltweit gesehen zwei- bis dreihundert Millionen Opfer in diesem Jahrhundert und vielleicht das Zehnfache im nachsten auch fur sie zuviel. Irgendeine Ecke kann vergessen bleiben. Jemand mu. aufpassen.« »Du bist heute aber optimistisch aufgelegt«, meinte ich ironisch. »Ich bin immer optimistisch aufgelegt«, antwortete Vater ernst.

  Am Tage, an dem ich die Ausreiseerlaubnis bekam, bekam ich auch einen Schlag mit dem Stein auf den Kopf und mu.te mit einer schweren Verletzung hospitalisiert werden. Zwei Manner hielten mich plotzlich von hinten fest, als ich vor der Wohnung meiner Eltern auf die Stra.e trat. »Na, jetzt hei.t es Abschied nehmen, Judlein«, flusterte mir einer von ihnen ins Ohr. Man fand mich auf dem Burgersteig mitten im Gedrange liegend mit dem Stein auf der Brust. Zeugen lie.en sich auf der belebten Stra.e keine finden.

 

Nach einem halben Jahr war ich noch nicht reisefahig. Das OWIR schrieb aber, da. ich entweder die Sowjetunion ungeachtet meines Gesundheitszustandes verlassen oder die Ausreiseerlaubnis neu beantragen musse, falls ich die vorhandene bis zu ihrem Gultigkeitsdatum nicht benutzte. Noch eine Verlangerung des Ausreisevisums aus gesundheitlichen Grunden wurde es nicht mehr geben.

 

Es wurde klar, da. ich direkt aus dem Krankenhaus zum Flughafen gefahren werden mu.te. Freunde und meine Mutter packten meine Reichtumer: zwei Tonnen Bucher und Schallplatten, zwei Hosen und drei Hemden. Dabei fand Berta das Steckbriefplakat und versteckte es bei sich. Sie hatte Israel vielleicht auch nicht erkannt. Aber Boris Borissow! Das horte sie so oft seit meiner Geburt. Berta schaute aufmerksam hin und erkannte ihn, denn sie konnte sich noch an den Anfang ihrer Bekanntschaft erinnern.

 

 4 Podporutschik Kische ist eine Figur in der gleichnamigen Erzahlung von Juri Tynjanow.

 

Zwei Monate lang zeigte Berta nichts, war freundlich und fursorglich wie immer. Aber eines Tages unterzog die Vierte Lady Israel einem Verhor. Sie fragte ihn nicht aus, sie machte Vorwurfe. Wie konnte er mit seinem bloden Boris Borissow ihr all die Jahre so mi.trauen und nichts gesagt haben und ihr Leben einer solchen Gefahr aussetzen, wo er ohne sie nicht einmal sein eigenes Leben richten konne ... Israel tat lange so, als ob er nicht verstehe, wovon sie redete. Dann zog sie – vielleicht aus Liebe zu Effekten oder zur Macht oder weil sie wirklich beleidigt war – den Steckbrief heraus. Israel traf der Gehirnschlag.

 

Im Krankenhaus verlie. Berta Israel fur keine funf Minuten. Zwei Tage lang redete er allerlei, da. er in Israel begraben werden wolle, da. Gott wie ein Mensch herausgefordert werden musse, damit er erkannt werden konne. Er streckte die Hand aus und futterte unsichtbare Vogel und Tiere mit unsichtbaren Speisen. Und er rief mich. Am dritten Tag verstummte er und erlahmte. Mama schickte mir ein Telegramm mit der Bestatigung des Krankenhauses, da. mein Vater im Sterben liege, damit ich das Einreisevisum bekommen konnte. Der diensthabende Arzt horte Vater das Herz ab, schaute in die Augen und stellte den Tod fest. Als die Sanitater kamen, um Vater auf die Bahre zu legen, stohnte er und rief mich oder seine Frau. Sie legten ihn zuruck. Am nachsten Tag wiederholte sich das Karussell. Dreizehn Tage lang.

 

Als ich meinen Einreiseantrag zusammen mit dem Telegramm in der sowjetischen Botschaft in Bonn vorlegte, sagte mir ein Botschaftssekretar hoflich und seine Hoflichkeit genie.end: »Werter Boris Israilewitsch, leider konnen wir Ihrem Antrag nicht stattgeben. Seien Sie nur logisch. Wir wissen, da. Sie Ihrem verehrten Vater sehr viel bedeuten, genauso wie er Ihnen. Jetzt liegt er im Sterben. Sie begrunden Ihre Einreise mit der Notwendigkeit, von ihm Abschied zu nehmen. Aber Sie selbst konnen nicht ausschlie.en, da. wenn Sie zum Sterbenden kommen wurden, er dann womoglich vor Freude nicht sturbe. Das wurde hei.en, da. Sie den Zweck Ihrer Reise sozusagen verfehlen wurden.«

 

Mit einem Sitzstreik vor der Botschaft und Hilfe von Journalisten, Polizisten und Schulern bekam ich endlich das Einreisevisum und kam nach Moskau, wenige Stunden, nachdem mein Vater tatsachlich gestorben war.

  Als Israel noch sprach, bat er meine Mutter, eingeaschert zu werden, um mir »die Fahrt nach Israel mit seinen Uberresten zu erleichtern«. Da wu.te ich, da. es die Herausforderung sowohl fur Gott als auch fur mich war: Nach judischem Religionsgesetz ist die Feuerbestattung strengstens verboten. Deswegen war es fur die Nazis unter anderem so wichtig, die Leichen der Juden zu verbrennen. Ich willigte in die Kremierung ein.

 

Einen Monat taglicher Behordengange hat es in Moskau 1976 benotigt, um die Ausfuhrerlaubnis fur die Urne nicht einmal nach Israel, sondern nach Deutschland, wo ich einen standigen Wohnsitz habe, zu bekommen. In Israel dauerte der Kampf um Vaters Begrabnis dreieinhalb Monate. Lang und beschwerlich war mein Weg in Israel, bis das Begrabnis stattfinden konnte: Begrabnisgesellschaften, Kibbuzim, verschiedene Politiker mit Golda Meir vornean, die Israelische Armee, Kommissionshearing in der Knesset, Auswartiges Amt, die sephardischen und aschkenasischen Rabbinate.

 

Die Begrabnisgesellschaften und die zustandigen Religionsamter verweigerten mir das Begrabnis mit zwei stereotypen Argumenten, einem kleinen: »Israel ist kein Friedhof fur die Moskauer Juden«, und einem gro.en: »Der Leichnam wurde verbrannt mit der wissentlichen Zustimmung des Verstorbenen, also hatte er damit den Bund gebrochen und kann uberhaupt nicht nach dem judischen Ritus begraben werden.«

 

Die erste Entkraftung: »Er stammt aus einer frommen Familie, hatte immer den Wunsch, nach Israel einzuwandern, hat es nur zeitlich nicht geschafft. Die Intention geht der Tat voran und mu. im Sterbefall als angefangene und nur nicht vollendete Tat betrachtet werden, als ob er unterwegs gestorben ware.« Dies wurde von den zustandigen Rabbinern auch leicht anerkannt.

 

Die zweite Entkraftung: »Israel war ein frommer Mensch, der mit seinem ganzem Leben seinen tiefen Glauben an Gott und seine Gerechtigkeit bewiesen hat. Er war uberzeugt, da. derjenige, der einen Menschen aus dem alten Gebein auferstehen lassen kann, ihn auch aus der Asche auferstehen lassen kann.« Die Rabbiner sagten: »Kann ja, aber nicht will.« Ich sagte: »Doch, Er will, dessen war mein seliger Vater sicher. Und da es im Judentum zwischen dem Menschen und Gott keinen Mittler gibt und keinen geben kann, so mussen Sie akzeptieren, da. es zwar nicht ublich ist, aber da. hier wegen einer besonderen Lebensleistung auch eine Ausnahme moglich sein mu..«

 

Diese Entkraftung wurde nicht angenommen. Das Gegenargument war: Da es hier um eine Ausnahme gehe, liege die Beweispflicht bei mir. Zwar glaubten die Entscheidungstrager auch an die Moglichkeit einer Ausnahme im Prinzip, aber nicht in meinem konkreten Fall. So wurde das Problem aus der prinzipiellen Ebene des Glaubensbekenntnisses und der Gotteserkenntnis auf die Ebene des Glaubenwollens-oder-Nichtwollens beim konkreten Machtinhaber uberfuhrt.

 

Uber die Losung dieses Problems wollte ich hier zunachst nicht berichten aus Respekt vor dem menschlichen Irrsinn und weil ich auch versprochen habe, daruber nicht zu schreiben, falls das Begrabnis nach aller Form richtig stattfinde. Daruber nicht zu erzahlen, habe ich aber nicht versprochen. Bei meinem Besuch in Israel 1997 sagte mir der verehrte Raw Schimon, da. ich jetzt von meinem Versprechen frei sei, weil der Oberrabbiner, dem ich mein Versprechen gab, bereits seit Jahren tot sei. Das Versprechen bindet aber nur fur die Zeit des Lebens dessen, dem es gegeben worden ist. Deswegen erzahle ich endlich, wie es war.

 

Ich schwor dem Oberrabbiner, da. ich, wenn mein Vater nicht rechtens begraben werde, mein Leben lang gegen das wurdelose und machtsuchtige System der konfessionellen Organisation in Israel kampfen wurde, und mein Vater wurde mir beistehen. »Das ist aber eine Erpressung, junger Mann«, sagte der Oberrabbiner. »Nein«, sagte ich, »das ist mein Glaube.« »O doch«, widersprach er, »es ist eine Erpressung und sogar eine erfolgreiche!«

  Ein Jahr spater pflanzte Ljolja Bimman eine Zypresse an Israels Grab. Sie wuchs schnell und wurde in funfzehn Jahren sehr schon. In dieser Zeit hatten wir einige Probleme in unserem Leben: Konflikt mit der Verwandtschaft, der Kontakt zu den Kindern war erschwert, das Bankkonto brutal uberschuldet, ich war arbeitslos und lag im Krankenhaus zur Halfte gelahmt nach einer Durchblutungsstorung im Gehirn. Da horte ich die Stimmen: Israel haderte mit Gott um unsere Zukunft. Das Gesprach wurde immer lauter und gespannter. Israel war schon sehr zudringlich, Gott wollte seine Ruhe und da. es lauft, wie es lauft. Dann sagte Israel, da. es so nicht gehen kann und da. er dann vorzeitig auferstehen werde, um uns selber zu helfen, weil er fur das Wohl seiner Nachkommenschaft verantwortlich sei.

 

»Hast du dich zu deiner Lebzeit darum gekummert«, fragte Gott. »So gut ich konnte«, antwortete Israel, und es war auch so. »Dann mu. es auch jetzt reichen«, sagte Gott. »Jetzt aber bist du dran, weil die Lage zu kritisch geworden ist«, forderte ihn Israel heraus. »Bleib, wo du bist, die Lage ist immer kritisch!« »Nein, das ist meine Familie!« »Bleib, wo du bist!«

schrie Gott so laut in die Leitung, da. sie anfing zu brennen; das Grab baumte sich auf und fiel dann aber zuruck.

 

Uns ging es danach deutlich besser. Ich wurde geheilt und fand die Arbeit, die mir zusagte. Die finanzielle Last hatte sich soweit erleichtert, da. wir im nachsten Jahr mit den Kindern zusammen nach Israel fahren konnten, um Vaters Grab zu besuchen. Die Zypresse war vollig abgebrannt von einem Blitz, die Grabplatte gesprungen, das ganze Grab verschoben. Das Grab haben wir repariert, aber die abgebrannte Zypresse zur Erinnerung stehengelassen.

  »Siehst du jetzt, da. es nur der Lebensproze. ist, mit dem Gott selbst, die Gotteserkenntnis und auch ihre Grenzen erforscht werden konnen?«, fragte Makari. »Erforscht ja«, antwortete Schlomo-Chaim, »aber verstanden! Womit willst du alles das verstanden haben? Mit dem Lebensproze.? Nein. Dazu brauchst du ein speziell konstruiertes geistiges Werkzeug, ein Aussagesystem, das jeweils in seiner Zeit und in seinem Zeitgeist das maximale Verstehen zula.t. In der mediterranen Antike war es die Thora. In irgendeiner Zukunft kann es eine Natur- und Geisteswissenschaften integrierende Universalethik werden.« »Mit solchen Ansichten verla.t du das Judentum, du Ketzer«, regte sich der Richter auf, »du willst die Thora erweitern.« »Nicht im geringsten«, verteidigte Israel seinen Vater, »die Thora beinhaltet alles, vieles aber in der intentionalen Form, als eine Absicht. In sechs Tagen schuf Gott Himmel und Erde und alles andere nicht als fertige Gegenstande oder einzelne Wesen, sondern als Seinsformen. Er entwickelt es weiter, jetzt mit den Menschen zusammen.« Genrich mischte seine Stimme ins Gesprach: »Da hat Schlomo recht. Ein richtiges Aussagesystem ist immer eine Geschichte. Sie zeigt uns nicht blo., was und wie es war. Nein, die Geschichte lehrt uns, was fur einen Sinn es hat, was war und wie es war.« »Eben das sage ich ja auch«, fuhr Schlomo-Chaim fort, oder war es Nehamiahs Stimme oder vielleicht deine, lieber Freund: »Gott will erkannt und verstanden werden. Nur dann konnen die Bundespartner den Bund richtig pflegen und sich gegenseitig heiligen. Nur dann konnen die Menschen auch verschiedener Religionen sich in Wurde verstandigen. Nur dann wird das Sein sich andern, und die Toten werden im neuen Sein auferstehen, um ihre Vergangenheit zu verantworten, und die Gerechten unter ihnen werden an der Zukunft im neuen Sein teilhaben, weil nur sie fur die neue Zukunft verantwortungsfahig sind.«

 

So war Boris Borissow, Professor Israel Schapiro aus Borissow in Beloru.land, der Gerechte, der Zaddik, der Gotteskrieger, der Herausforderer Gottes, Isra-El.

 

Das Leben eines jeden von uns ist ein Wortchen in einem langen Gesprach. Nicht immer wei. ein Wort, warum es im Satz steht, nicht immer wei. ein Mensch, wozu er lebt. Aber der richtige Zusammenhang der Worte gibt dem Satz einen Sinn, und der Zusammenhalt der Menschen in einer gemeinsamen Geschichte gibt uns die Chance, den Sinn unseres Lebens zu begreifen und verantwortungsvoll zu gestalten.

 

 

Veroffentlicht in: Merkur, Nr. 2 (610), 2000

   
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Шапиро Борис (Барух) Израилевич родился 21 апреля 1944 года в Москве. Окончил физический факультет МГУ (1968). Женившись на немке, эмигрировал (декабрь 1975) в ФРГ, где защитил докторскую диссертацию по физике в Тюбингенском университете (1979). В 1981–1987 годах работал в Регенсбургском университете, занимаясь исследованиями в области теоретической физики и математической динамики языка, затем был начальником теоретического отдела в Институте медицинских и естественно-научных исследований в Ройтлингене, директором координационного штаба по научной и технологической кооперации Германии со странами СНГ.

В 1964–1965 годах создал на физфаке МГУ поэтический семинар «Кленовый лист», участники которого выпускали настенные отчеты в стихах, устраивали чтения, дважды (1964 и 1965) организовали поэтические фестивали, пытались создать поэтический театр. В Регенсбурге стал организатором «Регенсбургских поэтических чтений» (1982–1986) – прошло 29 поэтических представлений с немецкоязычными лириками, переводчиками и литературоведами из Германии, Франции, Австрии и Швейцарии. В 1990 году создал немецкое общество WTK (Wissenschaft-Technologie-Kultur e. V.), которое поддерживает литераторов, художников, устраивает чтения, выставки, публикует поэтические сборники, проводит семинары и конференции, организует научную деятельность (прежде всего для изучения ментальности), деньги на это общество пытается зарабатывать с помощью трансфера технологий из науки в промышленность. Первая книга стихов Шапиро вышла на немецком языке: Metamorphosenkorn (Tubingen, 1981). Его русские стихи опубликованы в сборниках: Соло на флейте (Мюнхен, 1984); то же (СПб.: Петрополь, 1991); Две луны (М.: Ной, 1995), Предрассудок (СПб: Алетейя, 2008); Тринадцать: Поэмы и эссе о поэзии (СПб: Алетейя, 2008), включены в антологию «Освобожденный Улисс».(М.: НЛО, 2004). По оценке Данилы Давыдова, «Борис Шапиро работает на столкновении двух вроде бы сильно расходящихся традиций: лирической пронзительной простоты „парижской ноты“ и лианозовского конкретизма» («Книжное обозрение», 2008, № 12). Шапиро – член Европейского Физического общества (European Physical Society, EPS), Немецкого Физического общества (Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V., DPG), Немецкого общества языковедения (Deutsche Gesellschaft fur Sprachwissenschaften e. V., DGfS); Международного ПЕН-клуба, Союза литераторов России (1991). Он отмечен немецкими литературными премиями – фонда искусств Плаас (1984), Международного ПЕН-клуба (1998), Гильдии искусств Германии (1999), фонда К. Аденауэра (2000).

 

   
     

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